Schreiborte
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Auf
der Volksschule schrieb ich gerne sogenannte Phantasie-Aufsätze.
Meine Lehrerin förderte das. Um dabei ungestört zu sein, aber
auch um durch meine Schreibwut die anderen nicht zu irritieren, wurde
ich bei diesen Gelegenheiten in einen durch eine Glaswand abgetrennten
Teil des Klassenraums gesetzt. Diese Vorliebe ist nicht ungewöhnlich, vielmehr teile ich sie mit vielen Autoren. Gleichwohl hat jedes Schreiben an einem bestimmten Ort ein unverwechselbares Gesicht. Davon will ich versuchen etwas zu vermitteln.
Der Aufenthalt im Künstlerhaus des Landes NRW in Schöppingen
Baden-Baden
Das Baldreit-Stipendium von Baden-Baden war für einen 'artist in residence' ausgelegt: d.h. man erwartete, dass der Aufenthalt des Stipendiaten/der Stipendiatin (der/die ein Komponist, ein bildender Künstler oder ein Autor sein konnte) innerhalb von 12 Monaten irgendeine Wirkung für die Stadt zeigte. In dieser Zeit hatte man eine kleine Dachwohnung unterhalb des Schlosses ('Im Baldreit') zur Verfügung. Ich hatte in der entscheidenden Jurysitzung (ca. 20 Juroren gegen jeweils einen Bewerber) erklärt, das Jahr über "häufig und intensiv", aber nicht ständig in der Stadt sein zu wollen. Schließlich hatte ich Familie, zwei kleine Kinder. Als man nachhakte, wollte ich wissen, ob das Stipendium von vorn herein so angelegt sei, dass Bewerber mit Familie davon ausgeschlossen seien. Es gab ein großes Dementi, vor allem von Seiten der christlichen Mehrheitsfraktion. Das allein bringt einem jedoch noch kein Stipendium. Vielmehr legte ich ein detailliertes Programm vor. Ich beschrieb darin, was ich mir unter einer Literatur vorstellte, die eingefahrene Distributionswege verließ: Ich wollte auf einer Litfasssäule in der Fußgängerzone regelmäßig Texte veröffentlichen, einmal im Monat eine Art Literatursprechstunde abhalten und Auszüge der neu entstehenden Texte als Kopien in verschiedenen Kulturinstitutionen für Interessierte zur Verfügung stellen. Mir schwebte ein literarisches Netzwerk vor. Noch am Abend reiste ich zurück nach Frechen, wo ich damals mit meiner Familie lebte, und kam nach Mitternacht zuhause an. Auf dem Küchentisch fand ich einen Zettel meiner Frau: "Du hast das Stipendium!"
Baden-Baden war gewarnt. Die landschaftlich idyllisch gelegene Stadt war - bei vergleichbarer Größe - so ziemlich das genaue Gegenteil der Industrie- und Arbeiterstadt Frechen, wo ich seit einigen Jahren lebte. Luxushotels- und -geschäfte. Pferderennbahn, staatliche Kunsthalle, Spielcasino und Thermen, viel Geld und die 'bessere' Gesellschaft. Zahllose Seniorenresidenzen und allenthalben adrette Sauberkeit. Hier zählten vor allem nützliche Beziehungen, und hier gab es den guten Ton, der an Haben oder Nichthaben anknüpfte. Business und Wellness: dafür stand das Tourismuskonzept der Stadt, als dessen verlängerter Arm auch der Baldreit-Stipendiat angesehen wurde. Sodann die legendäre 'Große Woche', in der sich jährlich all das verband: in der Woche von August zu September traf sich seit dem 19. Jh. der europäische Hochadel, um amouröse Allianzen und Geschäfte zu machen oder Kriege auszuhandeln. Diese Andersartigkeit, auf die ich traf, erwies sich für mich als literarisches Lebenselixier. Ich begann schon nach ein paar Tagen ins Blaue hinein zu schreiben, abgesichert nur durch ein Netzwerk, das Wellershoff einmal "strukturelle Phantasie" genannt hat. In einigen der Erzählungen und Texten, die in diesem Jahr entstanden, ging es um Dreck und Exkremente, organisiertes Verbrechen, Prostitution, verkrüppelte Menschen, Geldwäsche und Drogensucht. Alles Dinge, mit denen Baden-Baden nichts zu tun hatte... Fokussiert in der Liebesgeschichte eines kolumbianischen Drogenbarons mit einer badischen Hausfrau, einer Witwe mit drei Kindern.
Kopien des ganzen Textes waren wie üblich in der Stadtbücherei, im Kulturamt und an anderen öffentlichen Stellen ausgelegt. Als
Folge zeigte sich in den Tagen darauf schroffe Ablehnung, die in einer
Erklärung des Oberbürgermeisters vor dem Rat der Stadt kulminierte:
"Zahlreiche Bürger, die ständig im Rathaus anrufen,
ihrem Ärger Luft machen, wünschen vehement ein Wort des Oberbürgermeisters
und fordern Konsequenzen". Man hoffte, der Stipendiat J. L.
werde die schöne Stadt an der Oos möglichst bald verlassen.
Die örtliche Presse beklagte die Undankbarkeit gegenüber dem
städtischen Mäzen. In die Literatursprechstunde kamen brave
Patrioten, um mich zu beschimpfen. Aber ich wurde auch von wildfremden Leuten angesprochen: etwa wenn ich mit dem Kinderwagen in der Fußgängerzone unterwegs war und man zeigte sich glücklich, dass ich den Geist (und den Nerv) der Stadt getroffen hatte. Ich habe meine Arbeit als Stadtschreiber in Baden-Baden getan. Ein literarischer Text wurde zum Stadtgespräch. Mehr war in der Stadt an der Oos für mich nicht zu erreichen. Auf dem Höhepunkt der Debatte verfasste ich in Reaktion auf Artikel in der Badischen Zeitung folgenden Leserbrief, der auch abgedruckt wurde:
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