Confessions
Über die Liebe im öffentlichen Raum
Rede anlässlich der Verleihung des Baldreit-Stipendiums als Stadtschreiber der Stadt Baden-Baden
Eine weitere Rede:
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Wir reden über Politik, über unsere Freunde, über Fußball und Tennis. Wir reden übers Einkaufen und über unsere Arbeit. Vor allem reden wir über Urlaub und Wetter. Selten und nur in ausgewählten Augenblicken reden wir über die Liebe. Aber nie über das, was uns am wichtigsten ist, einfach, weil es uns am meisten zu schaffen macht: die körperliche Liebe. Sie wird immer mehr an den Rand des bürgerlichen Wortschatzes gedrängt, in Ratgeberecken, wo auf eine Frage eine Antwort präsentiert wird. Dabei gibt es für die körperliche Liebe, wenn sie aus der öffentlich nutzbaren Sprache verschwindet, keine brauchbaren Antworten mehr. Ich
habe hier ein Problem umrissen, das sich mir stellt, wenn ich über
die Liebe, auch über die körperliche Liebe, schreibe, wie es
seit geraumer Zeit geschieht und, soweit absehbar, noch weitere zwei,
drei Jahre geschehen wird. Was bedeutet das? Es könnte bedeuten, dass eine Frau in einer politischen Versammlung der CDU den Redner nicht nur fragt, was er zum Problem des badischen Sondermülls zu sagen hat, sondern auch, dass sie sich in ihn verliebt habe und ob er ihr einen Vorschlag machen wolle, wie man damit weiter verfahren könne... Sie
denken nun, dass sei nicht ungewöhnlich, nur ein bisschen verrückt.
Und haben Recht. Es ist nur ein bisschen verrückt. Die französischen
Nachbarn haben den Begriff der amour fou, ein ganzes Literatur- und Filmsegment
lebt davon. Nehmen wir als allgemeine Ausgangslage die aufgeklärte Unfähigkeit, bei der körperlichen Liebe zu benennen, was uns fehlt. Menschen, denen einigermaßen glaubhaft möglich ist, über diese Wünsche zu sprechen, haben die eigentümliche Kraft, den gesellschaftlichen Diskurs nicht nur zu erweitern, sondern ihn manchmal auch qualitativ zu verändern. (Ich meine nicht Liebesfunktionäre, wie die leidige Erika Berger von RTL, die, allesamt, gleich ob Mann oder Frau, sichtbar oder nur mental, vor uns die Beine übereinander schlagen.) Dass
diese Kraft real sein kann, ist leicht zu beweisen: Fragen Sie Ihren Bundestags-
oder den Landtagsabgeordneten, fragen Sie den Bürgermeister nicht
nur, was er für die geplante Ortsumgehung tun kann, wie er neue Kindergartenplätze
(gibt es auch im Badischen zuwenig davon...?), wie er neuen Wohnraum schaffen
will -: fragen Sie ihn auch, was er von der Liebe hält. Sie
denken nun, das sei alles ein wenig überdreht? Kennen Sie einen Politiker, welchen die der körperlichen Liebe gewidmeten Nächte (von Tagen wage ich nicht zu reden) so mitgenommen haben, dass er erst einmal (halb sich entschuldigend, halb noch entzückt) an das "Meine sehr geehrten Damen und Herren" anfügen muss: "Ich habe fast die ganze zurückliegende Nacht damit verbracht, mit meiner Frau zu schlafen, bzw. mich von ihr lieben zu lassen - wundern Sie sich deshalb bitte nicht, wenn Sie in dieser Debatte einen zwar glücklichen, aber schläfrigen Menschen vor sich haben, dem die Auswirkungen der letztjährigen Anhebung des Gewerbesteuersatzes im Augenblick ziemlich fern sind..." Sind
bei uns Politiker denkbar, Manager, Funktionäre und andere, die in
den Augen der Öffentlichkeit etwas Wichtiges zu tun scheinen, die
sich so der Liebe, genauer: der körperlichen Liebe aussetzen?
Es fällt auf, dass gerade, wo sich unsere gesellschaftlichen Verhältnisse zu Machtfragen ballen, über Liebe nicht gesprochen wird (dass sie, selbst im platonischen Sinn, nicht praktiziert wird, ist klar). Ihre Abwesenheit scheint wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren von Machtsystemen. Sie ist verbannt: in die Nacht, ins Wochenende, in den Jahresurlaub, in die Zeit nach dem Arbeitsleben, irgendwohin. Selbst ins Jenseits. Liebe, körperliche Liebe im öffentlichen Raum, ist keine Frage der zusammenhängenden Bilder, die wir uns schaffen: gemeint ist kein öffentlich zu vollziehender Liebesakt, ich bin kein Pornograf; nicht an dieser Stelle. Es ist um so mehr eine Frage der Sprache, der Zwischentöne, der Sprachregelungen für einen Bereich, der nicht verlässlich regelbar ist, und nun wird vielleicht langsam deutlich, welche Chance es für uns Regierte und so leicht Regierbare ist, Politiker und andere Funktionsträger mit ihren Sprachmauern für alles Regelbare nach der Liebe, der körperlichen Liebe zu fragen. Hören Sie also auf die Zwischentöne, hören Sie hin, welche Worte der Oberbürgermeister oder der Bundestagsabgeordnete findet: ob es Sprachregelungen sind oder, der Liebe angemessen, Zeichen existentieller Verwirrung. Und seien Sie konsequent: wählen Sie niemanden, bei dem sie sich keine Zeichen von glücklicher Schwäche, von Verzweiflung, von einer in verwirrenden Umarmungen verbrachten Nacht vorstellen können. Denn warum sollten wir jemanden an die Spitze unserer Gemeinwesen wählen (ich setze immer noch voraus, dass der Staat auch das Glück seiner Bürger zum Ziel hat), der eine unserer humansten Eigenschaften: die der körperlichen (also: praktizierten) Liebe, aus seinem Leben verdrängt zu haben scheint? Was können wir tun? Ich bin am Rhein aufgewachsen, wo er beginnt, freier auszuatmen, wo die Berge, die sein Bett einzwängen, noch seinen Lauf bestimmen, aber wo das flache Land, die Köln-Bonner-Bucht schon sichtbar wird. Heinrich Böll, ein Nachbar (auch wenn es verwegen anmutet, ihn so zu nennen), der Menschen- und Landschaftsmaler dieser Region, hat, wie ich glaube, selten und nie sehr überzeugend über die körperliche Liebe geschrieben: ich vermute, weil er katholisch erzogen, aber trotzdem glücklich verheiratet war - für die Produktivität eines Schriftstellers ein furchtbares Schicksal (jedenfalls was dieses Thema betrifft). Aber
er hat auf etwas hingewiesen, was Hilfsmittel sein kann beim Umgang mit
der körperliche Liebe: auf den Humor,
den er, dem römischen Ursprung Kölns entsprechend, auf die lateinische
Wurzel: das Feuchte, bezog. Und ich füge nun hinzu, dass nichts
bei dem, was wir mit unserem Körper tun, so sehr mit Feuchtigkeit,
mit Flüssigkeiten, Schweiß, Sperma, Gleitsekreten, Speichel,
auch: Tränen, zu tun hat wie die praktizierte Liebe, die sich somit
ganz einfach als höchste Form des Humors definieren lässt -
wenn sie, im Sprechen (und wenn wir endlich schweigen) gelingt. |