Kleine
[ aus einer Laune heraus nannte ich ihr den ersten jüdisch klingenden Namen, der mir einfiel ]
|
Play
Von Dezember 2000 bis Januar 2001 war ich auf Einladung des niederländisch-deutschen Kulturaustauschs in Amsterdam. Ich wohnte - zum Teil mit meiner Familie - in einem kleinen Appartment, unter dem Dach eines alten Patrizierhauses direkt am Vondelpark, im Südwesten der Stadt. In den vier Wochen meines Aufenthalts streifte ich jeden Tag durch die Straßen und an den Grachten entlang, um zu einzelnen Orten zu kommen, die mir lieb geworden waren - oder um neue zu entdecken. So war ich häufig im Grand Café De Jaren, um dort an den Zeitungstischen bei einer Tasse Kaffee ein wenig zu lesen, das bunte Gemisch von Touristen, Studenten (der nahen Hochschule) und 'normalen' Bürgern der Stadt zu beobachten und dann mein Tagespensum von zwei, drei Seiten zu schreiben. Durch die riesige Fensterfront hatte man einen ungehinderten Blick auf die Amstel, wichtiger für mich waren jedoch Ausblicke auf die großen und kleinen Inszenierungen von Individualität im Inneren des theatergroßen Raumes. Abends war ich manchmal im Café Americain, einem aufwändig restaurierten Art Deco-Tempel, in dem man am üppig bestückten Zeitungsdesk bei einem Glas Sauvignon Blanc Scharen von amerikanischen Sightseeing-Touristen beobachten konnte. Aber auch Banker, die sich bei Cognac und Havanna entspannt über internationale Wirtschaftsblätter beugten. Oder gut situierte Amsterdamer Familien, tief gestaffelt in mehreren Generationen und allesamt in Sonntagskleidern, die irgendeine Familienfeier begingen. Hin
und wieder zog mich auch das Kulturzentrum De Balie an. Dort war,
vornehmlich bei Film- und Diskussionsveranstaltungen, ein eher intellektuelles,
linksliberales Publikum anzutreffen, studentisch, alternativ, kritisch.
An einem Abend war gerade eine Veranstaltung zu Palästina beendet,
als ich auf dem Heimweg Richtung Vondelpark noch auf ein Glas Wein vorbeischaute.
Dieser Umstand erweckte zusätzlich mein Interesse - obwohl es des Hinweises kaum bedurft hätte, denn die Frau war sehr schön, wirkte überdies sehr lebendig in ihren Gesten und hatte sichere, anmutige Bewegungen (einmal stand sie auf, um an der Bar Wein für sich und die Ältere zu holen). Sie hatte ein weites lodengrünes Cape abgelegt, als sie sich an den Tisch setzte. Darunter trug sie ein rotes Kostüm, das erkennbar von sehr guter Qualität war. Ihr Haar war rabenschwarz, ihre Augenbrauen ebenso betont, ihr Mund war rot geschminkt und sie hatte weiße, blendend weiße Zähne. Irgendwann
wurde die Ältere von einem bärtigen Mann weggeholt. Nach einigen
stillen Augenblicken schauten wir zur gleichen Zeit auf, unsere Blicke
kreuzten sich, und wir kamen mit einem Lächeln ins Gespräch.
Ich sagte, dass ich Autor sei und zurzeit in Amsterdam wohnte. Sie fragte
nach meinem Namen, und aus einer Laune heraus nannte ich ihr den ersten
jüdisch klingenden Namen, der mir einfiel. Wir lachten
beide. Danach unterhielten wir uns lange über Identität. Esther fragte mich dann nach meiner Arbeit. Ich erzählte von 'Reichstage', den Roman, den ich gerade nach langen, wirren Jahren abgeschlossen hatte: ein Roman, der nicht zuletzt auch von den Schwierigkeiten nationaler wie individueller Identitätsfindung handelte. Ich erzählte Esther auch, dass ich über Jahre hin die Vorstellung hatte, dass der Roman mit einem bestimmten Satz beginnen sollte:
Ich musste Esther den Satz und wie es dazu gekommen war, erklären. So wurde es eine lange Nacht im De Balie. Später trafen wir uns noch einige Male, wenn Esther allein in Amsterdam sein konnte. Aber das ist eine andere Geschichte.
|
|
|
Silvesternacht
Der
Hausherr liest von Wellershoff Der Liebes-
Die junge Frau
Noch
einmal wird die Nacht vereinen, Ihr
Gesicht ist so unglaublich
Grasbutter
Vielleicht
hat er sich abbilden lassen, vereinigt Sie
reibt sich die Wange beharrlich, bis sie Über
ihrer kalvinistischen Brust findet Sie
studiert am Zeitungstisch, was ihr der Ehemann Und
dann kommt ihr Replay-Blick übers freie Feld,
Kerstnacht
Aber
was ist das schon gegen eine
|