Die Welt erkunden Ein literarischer Reiseführer
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Viele
meiner Geschichten spielen außerhalb Deutschlands, obwohl ich mich
als Autor verstehe, der die deutschen Zustände im Sinn hat. Warum
also? Ich bin in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen
und habe eine Art 'Bildungsaufstieg' versucht - nicht zuletzt, um mich
von dieser Herkunft zu lösen. Mittlerweile weiß ich, dass das
nicht so leicht möglich ist und dass man vermutlich besser fährt,
wenn man das vorhandene Erbe akzeptiert. Im Ganzen gesehen ein langer
und mühsamer Prozess, der vermutlich nie ganz abgeschlossen sein
wird.
(...)
Achill bestand aus einigen winzigen Dörfern, deren
Häuser, in erbärmlichem Zustand zwar, bisher dem Meer und der
Salzfracht des Ozeans standhielten. Die Häuser waren auf einen Blick
zählbar, außen von schmutzigem Weiß, innen von der ungewissen
Farbe sich übereinanderschiebender Wasserflecken. Ihr Cottage lag
auf einer kleinen Erhebung zwischen zwei Bergen. Es hatte einen Innenhof
und, zu Scherers Erleichterung, um das kleine Grundstück eine Einfriedung
aus hochgewachsenen Fuchsiensträuchern, die in voller Blüte
standen. Durch Schwärme von winzigen, Fleisch fressenden Fliegen
erwiesen sie sich als unpassierbar: den Kindern wurden klare Grenzen gesetzt.
Mochte
die Vegetation auf Achill Island im allgemeinen auch karg und abweisend
sein -: im fortgeschrittenen Frühling blühten in den geschützteren
Tallagen Ginster und Rhododendron in verschwenderischer Fülle. Überall
leuchteten in der eintönig braunen Heide- und Moorlandschaft die
intensiv-gelben oder blaßlila-farbenen Inseln.
Der
Weg, den ihnen die alte Frau bezeichnet hatte, führte sie am Saum
einer Steilküste vorbei. Rechts von ihnen breitete sich die weite
Fläche des Ozeans aus. Links, auf der inneren Seite ihres Weges,
glänzte ein kalter Bergsee, in dem Forellen sprangen. In der Ferne
sahen sie am Abhang eines Berges eine Art Ornament, Linien, ähnlich
denen, wie sie der Torfabbau hinterließ. Es konnten aber auch Grenzzäune
oder etwas anderes sein.
(1) Maremma amara - die bittere
Wir redeten nicht viel, tauschten nur ein paar Belanglosigkeiten über das Wetter und die Küste. Sie nahm meine rechte Hand zwischen ihre Hände und hielt sie fest, etwas, was ich mir gleich gewünscht, selbst aber nicht gewagt hatte, zumal Svea gerade noch mit dem Mann zusammengewesen war. Dann fuhren wir in ein Hotel, um miteinander schlafen zu können. Den alten Herrn an der Rezption verwirrten wir mit unseren aufgeregten, gierigen Gesichtern, die ihm ein wenig schuldbewusst und darum albern kichernd entgegenblickten. Ihre Sachen holten wir später aus einer Villa, in der sie mit dem Italiener wohnte. Als
wir in der Nacht wieder atemlos nebeneinanderlagen, fragte Svea, wie es
dieser anderen gehe. War Svea die Geschichte dieses Landstrichs bekannt? Jetzt fruchtbar und grün, einst aber Maremma amara: die bittere. Oder hat sie von der früheren Beschaffenheit des Landes nur etwas geahnt? Von den Sumpfgebieten in den Niederungen, wo die Luft im Sommer fiebergetränkt war, bis in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts damit begonnen wurde, Flüsse umzuleiten, Sümpfe trockenzulegen und aufzufüllen. Doch
die mala aria, die schlechte Luft, blieb. Und die Tagelöhner,
die, wie seit
Jahrhunderten, im Sommer von den umliegenden Bergen herabkamen, atmeten
diese Luft auch weiterhin ein. Dort oben wehte zwar ein frischer Wind,
aber es gab keine Arbeit. So verdingten sie sich bei den Padroni, um die
Schafherden zu hüten oder im Winter Oliven zu pflücken. Ausgerechnet
mit dem Faschismus begann es besser zu werden. Straßen wurden gebaut
und Menschen in das kaum besiedelte Land geschickt. Nach dem Krieg kamen
die Amerikaner. Und mit ihnen das DDT. Ich ahnte die Zusammenhänge und hätte den Ärzten sagen können, dass das Fieber nicht ansteckend war: Svea hatte die schlechte Luft in sich gebannt. Doch ich stand schweigend vor ihrem Bett und weigerte mich, die Geste anzunehmen. Zeitweise brauste kalter Zorn in mir auf, in eine solche Lage gebracht worden zu sein. Aber wenn ich dann Svea vor mir sah, wie sie sich dem Fieber schutzlos auslieferte, unterdrückte ich jeden Vorwurf. Ich wollte sie nicht verlieren, hatte zugleich aber auch Angst, die Zigeunerin, diesen fernen, seltsamen Spiegel, zu verlieren, wenn ich Svea helfen würde. Während ich noch überlegte, verfiel sie in Windeseile. Die Ärzte hielten es für die extreme Form eines seltenen Fiebers, das normalerweise nur Kinder befällt. Ein anderes Mal sprachen sie von einem ungewöhnlichen psychosomatischen Ausbruch. Schließlich kam einer der behandelnden Ärzte zu mir und gestand ein, Svea nicht helfen zu können. Ich nahm es wortlos hin. Er hatte erwartet, dass ich in Tränen ausbrechen würde, und bezeugte mir nun einigermaßen erleichtert seinen Respekt für meine Tapferkeit. Dabei schwieg ich, weil die Zigeunerin mir nah war wie nie zuvor. Die Intensität ihrer Erscheinung schien in dem Maß zu wachsen, wie Sveas Leben zu Ende ging. Jeden Tag verbrachte ich viele Stunden an ihrem Bett, hielt die schmal gewordenen Hände und beobachtete bedrückt die hetzenden Atemzüge. Ab und zu tupfte ich den Schweiß von ihrem Gesicht und gab ihr zu trinken. Doch vermied ich es, ihr dabei in die Augen zu schauen, die seltsam klar blieben in den Tagen und Wochen der Krankheit, als wären sie ein Spiegel ihres Geistes oder ihrer Seele, während der übrige Körper sich aufzulösen schien in gläsernes Nichts. Die von der Sonne gebräunte Haut wurde schimmernd durchsichtig, so als verlange der darunterliegende Körper keinen Schutz mehr. Die empfindlichen Mundwinkel waren eingerissen, die Lippen von Fieberbläschen übersät. Das Haar hatte eine unansehnliche, stumpfe Farbe angenommen und war brüchig geworden. Wenn das Fieber besonders heftig anstieg, was alle drei oder vier Tage geschah, versuchte ich ableitende Waschungen, wie es mir die Schwestern gezeigt hatten. Mehr konnte ich nicht tun. Als Svea sah, dass ich nicht von der Zigeunerin ablassen würde, weil auch diese nicht von mir ließ, verlor sie für einen Augenblick die Beherrschung, und das Fieber stieg auf schreckliche Höhe. Weil aber die Krankheit nicht Ausdruck ihres gesunkenen Lebensmutes war, sondern, wie ich heute glaube, eine bis an die Grenzen der Selbstkontrolle gehende Liebeserklärung, überwand sie, was sie als Scheitern ansah, mit ungebrochener Widerstandskraft. Rasch sank nun das Fieber. (...)
aus: Bekassinen; in: Die Liebe am Nachmittag, Liebesgeschichten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996
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