Die Piratin

Erzählung

 

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Die Piratin.
Kurzhörspiel. SDR

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Hatte er wirklich einen langgedehnten, nahezu schmerzerfüllten Schrei von sich gegeben, so dass die Piratin eine Hand über seinen Mund legen und ihn dann, wie um Schlimmeres zu verhüten, mit ihrem Mund verschließen musste?


Sie waren immer für Offenheit gewesen. Daran hatte sich nichts geändert. Aber sie hatten nicht an die Möglichkeit von Träumen gedacht - die offenbar nicht so einfach beiseite zu schieben waren wie ein Stück Realität, das einem nicht in den Kram passte. Scherer wusste nicht, ob er Paula untreu gewesen war. Und er wusste auch nicht, ob er noch treu sein wollte. Denn selbst wenn die Begegnung mit der Piratin nur eine Art 'Traum' gewesen war (es gab diese Möglichkeit) -: was zum Teufel sagte diese Art von Träumen über ihn und Paula?

Er hatte mehrmals Briefe mit Zeichnungen der Kinder an die deutsche Botschaft in Kuala Lumpur geschickt, mit der Bitte, sie an Paula weiterzuleiten. Aber er wusste nicht, wie lange es auf dem Postweg von Achill Island nach Kuala Lumpur dauerte. Manchmal stellte er sich Paula vor, wie sie sich durch den malaiischen Dschungel kämpfte und ab und zu eine Schlange, einen Vogel oder einen Affen nach dem nächsten Postoffice fragte.

Paula hatte sich in den Wochen vor ihrer Abreise intensiv vorbereitet, nicht nur was ihr Fachgebiet im engeren Sinne betraf, sondern auch was die Geschichte, Kultur und Gesellschaft des südostasiatischen Landes anging. Die Reise galt einer bestimmten Schlingpflanzenart, die nur in den Küstendschungeln des Nordwestens vorkam. Wenn Paula den High Tech-Flughafen von Kuala Lumpur hinter sich ließ, würde sie geradewegs in den Dschungel vor der Straße von Malacca eintauchen, mit all seinen Gefahren - ein Aspekt ihrer Forschungsreise, der sie sehr gereizt hatte.

Ob sie im malaiischen Dschungel manchmal an ihn dachte? An die Kinder dachte sie ohne Zweifel. Aber die Frage war: dachte Paula auch an ihn?

Sein Auslandseinsatz für die deutsche Tochter der amerikanischen Ford Corporation und das Reisestipendium für Paula hatten sich wider Erwarten überschnitten. Paula war mit einem Forschungsauftrag im Dschungel Malaysias verschwunden - für Sabine und Georg, sechs- und dreijährig, eine noch unverträglichere Gegend als der Westen Irlands. Daher waren die Kinder an ihn gefallen.

Ihren Verwandten und Freunden, großstädtische Menschen allesamt, ungebunden, oft kontinental unterwegs, Restaurantesser mit Verdauungsbeschwerden, Menschen, die sich mit Expressreinigungen auskannten und mit hinreichend dienstbereitem Personal, modernen Menschen also, waren Kinder nicht zuzumuten gewesen. Und die Großeltern lebten in komfortablen Seniorenheimen, die Meerschweinchen gestatteten und Wellensittiche, aber keine Kinder.

Auch auf der Insel wollte sie niemand. Die Frau, die sich bei der Ford Corporation als deutschsprachiges Kindermädchen gemeldet hatte, war plötzlich mit einem norwegischen Matrosen nach Kanada fortgegangen, und obwohl es auf der kleinen Insel im Westen Irlands außerhalb der schmalbrüstigen Feriensaison kaum etwas zu verdienen gab, sah es so aus, als wären alle Frauen hinreichend damit beschäftigt, selbst Kinder zu haben oder zu bekommen. Den lieben langen Tag schienen sie damit zu verbringen, die kleinen Häuser in einer etwas zweifelhaften Ordnung zu halten und ihre Familien mit nährstoffreichen Mahlzeiten zu versorgen. Wenn das Wetter brauchbar war, trockneten zudem einige Kleidungsstücke an der Leine, und Scherer dachte, weil es stets nur wenige waren, dass für die Waschmittelwerbung, wie er sie von Deutschland kannte, auf Achill Island kein Verständnis zu finden wäre: Wäscheberge, wie in den Zentren der Zivilisation angezeigt, waren hier auf dem Lande nicht zu bewältigen.

Wie auch immer, es gab niemanden, der Zeit hatte und sich mit den Kindern auf Deutsch hätte verständigen können. So hatte Scherer schweren Herzens beschlossen, sie selbst zu versorgen.

Wie oft sollte er aber an dem wackligen kleinen Tischchen sitzen, das ihm als Schreibunterlage diente, für jene Studie, die er ausgerechnet hier im Auftrag der Ford Corporation zu erarbeiten hatte, und alle kontinentaleuropäischen Flüche, die ihm geläufig waren, zwischen den Zähnen zerreiben, weil er dem aktuellen Geschrei der Kinder entnehmen musste, dass sie ihn wieder nicht zur Arbeit kommen lassen wollten?

Die Trennung von Paula war ein Desaster gewesen. Die Reise danach ebenso: auf einer überfüllten Fähre, in einer überheizten, engen Kabine. Sabine übergab sich beim Dinner, als sie entdeckte, dass das Zeug auf ihren Nudeln Garnelen waren, die sich im Auf und Ab des Schiffes noch zu bewegen schienen. In der Nacht träumte sie unruhig, und Georg pinkelte gegen zwei, wie von zu Hause gewöhnt, in seine Bettkoje; doch zu Hause war stets Paula zur Stelle gewesen. Schließlich lagen beide im unsteten Schlingern des betagten Seelenverkäufers auf der schmalen Pritsche in seinen Armen und schliefen bald wieder ein. Scherer hingegen wurde durch die kreatürlich tiefen Atemzüge ebenso wie durch zahllose Bodychecks wachgehalten bis in den grauen Irlandmorgen, der mit Nieselregen gegen ihr Bullauge blies.


Achill bestand aus einigen winzigen Dörfern, deren Häuser, in erbärmlichem Zustand zwar, bisher dem Meer und der Salzfracht des Ozeans standhielten. Die Häuser waren auf einen Blick zählbar, außen von schmutzigem Weiß, innen von der ungewissen Farbe sich übereinanderschiebender Wasserflecken. Ihr Cottage lag auf einer kleinen Erhebung zwischen zwei Bergen. Es hatte einen Innenhof und, zu Scherers Erleichterung, um das kleine Grundstück eine Einfriedung aus hochgewachsenen Fuchsiensträuchern, die in voller Blüte standen. Durch Schwärme von winzigen, Fleisch fressenden Fliegen erwiesen sie sich als unpassierbar: den Kindern wurden klare Grenzen gesetzt.

Im Haus gab es eine bescheidene Kücheneinrichtung, die ihn an seine studentischen Zeiten in Wohngemeinschaften erinnerte, geeignet, Nudeln zu kochen oder warme Milch und Butterbrote mit Gurkenstückchen zu bereiten. Es gab ein Bad, durch dessen undichtes Dach im Winter sämtliche atlantischen Stürme weiblichen Namens gezogen waren, und es gab eine Reihe von Räumen, von denen sie nach und nach die bewohnbaren für sich entdeckten.

Immerhin, die Kinder hatten Raum für ihre Spiele. Vor dem Schlafengehen und nach dem Aufstehen jagten sie die pfeilschnellen irischen Spinnen, verfolgten sie durch sämtliche, von geduldigen Generationen mürbe gewohnten Zimmer. Tagsüber sammelten sie behäbige Kellerasseln und sortierten sie in Streichholzschachteln nach Größe. Oder sie reizten die sanftmütigen Skorpione der Insel, bevor sie die fingergroßen Tiere mit Bedacht zertraten.

Um das Haus selbst zog unermüdlich eine Herde phlegmatischer Rinder, mit weißem oder schwarzem Rücken. Zeitweise machten sie mit ihren Fladen das Tor unpassierbar. Die Schafe der Insel hingegen trieben sich auf den abschüssigen Landstraßen herum. Die dummen Tiere, gefräßig und ohne Zahl, wurden jetzt von kräftigen Lämmern begleitet, und schwarzglänzende Kotmurmeln rollten von Sonnenaufgang bis tief in die Nacht hinein am Cottage vorbei hinunter zum Strand.

In den ersten Tagen versuchten Sabine und Georg noch - mit der gläubigen Emphase von Großstadtkindern auf den Gesichtern - die Lämmer zu streicheln. Doch die Tiere hielten, wie Großstadtmenschen, lieber auf schreckhafte Distanz. Schließlich begnügten sich die beiden damit, die zwei- oder dreifache Farbmarkierung auf dem Rücken der wild lebenden Tiere zu unterscheiden und in Listen festzuhalten.

Dergleichen Spiele lenkten Sabine und Georg in der ersten Zeit ein wenig ab. Trotzdem hallten die hohen, spärlich möblierten Räume immer wieder von ihren Klagen: dass sie viel lieber zu Hause und bei ihrer Mutter wären.

Scherer sah darin eine Anklage und reagierte anfangs häufig ungerecht. Auch wurde er schnell unsicher und nervös, wenn die Kinder weinten oder stritten. Wenig geübt im ständigen Umgang mit den beiden, sah er ihr Verhalten als Undankbarkeit an gegenüber seinen Bemühungen, ihnen auch in der irischen Wildnis ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Er versuchte ihnen klarzumachen, dass es sich nur um einen Aufenthalt von drei Monaten handelte. Aber die Kinder hatten weder Zeitgefühl noch eine angemessene Vorstellung von Time -Management und weigerten sich einfach, dem Trost einer so ungewissen Hoffnung nachzugeben.

Jeden Tag fragte Georg von neuem, wie oft sie noch schlafen müssten, bis sie zurückdurften nach Köln: zu ihrer Mama, zur Sendung mit der Maus und zu ihren besten Freunden. Und Sabine zählte sodann in Gegenwart des Vaters aufreizend langsam die noch verbleibenden Tage einzeln durch. Im Herbst würde sie in die Schule kommen, und Scherer fürchtete schon jetzt die rasch wachsende Unbestechlichkeit ihres Geistes.

Wenn sie dann seiner Not, für genügend Essen, Wärme und trockene Kleidung zu sorgen, noch Widerstand entgegensetzten, wenn Sabine ihren eigenen, höchst komplizierten Kopf hatte und Georg trotzte, was das Zeug hielt, mit einer Stimmlage, die Rinder und Schafe in die Ungewissheit des jenseitigen Torfmoors jagte, so kam es schon einmal vor, dass Scherer die Kinder hart anfasste.

Er packte sie an den Armen, donnerte ihre Namen und schüttelte in seiner Verzweiflung die schmächtigen Körper, als wollte er dem vermutlich innewohnenden Verstand eine letzte Chance geben, sich ihm gegenüber human zu verhalten - auf dass es nicht zum Schlimmsten kommen müsse.

Im Lauf der Zeit gab es im Zusammenleben mit den Kindern freilich mehr und mehr erträgliche Momente, in denen ihm seine hektische Ungeduld peinlich war, weil er in ihrem Spiel den unersättlichen Drang nach Liebe entdeckte. Weil er entdeckte, was ihm zu Hause, wo alles seinen unheroischen Ablauf hatte, mit Kindergarten und Babysitter, mit Paula und Überstunden und vorterminierten Wochenenden, vermutlich entgangen war: dass in ihren so lächerlich kreatürlichen Bedürfnissen genug Kraft war, um ihn von einem auf den anderen Augenblick sanft und duldend zu machen - und zugleich bereit für jene endlose Palette unlogischer Dinge, die Sabine und Georg ständig und überall im Sinn hatten.

Es waren wahrhaft erstaunliche Fähigkeiten, die ihn vor Stolz dahinschmelzen ließen: zum Beispiel wenn Georg seine Schuhbänder zu einem unlösbaren Knoten vermengte. Oder wenn Sabine den Endlos-Faden ihres Honiglöffels in einer Art aufrollte, dass man den Blick nicht wenden konnte von dem goldenen Spinnennetz, an dem sie so überaus ernsthaft arbeitete.
Scherer verspürte in solchen Situationen den nicht mehr aufschiebbaren Wunsch, den beiden die Gewissheit zu geben, dass er sie auch hier, am Ende der Welt, beschützen werde. Also umarmte er sie, ungeschickt und liebevoll, und Sabine und Georg nutzten instinktsicher den kostbaren Augenblick, um Süßigkeiten zu erbetteln oder ein zeitaufwendiges Spiel.

Hin und wieder freilich kamen Georg und Sabine nun auch, um nur in den Arm genommen zu werden. Zwei, drei Sekunden, und dann war es gut.
Dann riefen sie zufrieden: 'Tschööhöh!'
Und trippelten wieder davon.

Mochte die Vegetation auf Achill Island im allgemeinen auch karg und abweisend sein -: im fortgeschrittenen Frühling blühten in den geschützteren Tallagen Ginster und Rhododendron in verschwenderischer Fülle. Überall leuchteten in der eintönig braunen Heide- und Moorlandschaft die intensivgelben oder blaßlila-farbenen Inseln.

Der größte Teil von Achill war jedoch von Bergen bedeckt und unfruchtbar. Die Bergrücken lagen kahl und blieben bei schlechtem Wetter schon in geringer Höhe wolkenverhangen. Ein beständiger kalter Nordwest hielt das überall wuchernde Heidekraut niedrig und verfilzte es zu dicken Teppichen. Auf den feuchten Wiesen des Flachlands wuchsen Binsen zu gewaltigen Nadelkissen heran, kreisförmige Festungen, die selbst von den allesfressenden Achillschafen gemieden wurden. In den Ebenen zwischen den Bergen erstreckten sich weite Hochmoore. Oft sah man von den schmalen Landstraßen aus einsame Männer oder Frauen in buntkarierten Hemden, wie sie, tief im Schwarzwasser der ableitenden Gräben eingesunken, Reihen aus dem Torf stachen, die irgendwann höher waren als sie selbst.

Die Insel wurde durchschnitten von Hunderten dieser schwarz und speckig glänzenden Stechkanten. Irgendwann versumpfte der Boden erneut. Doch bis es soweit war, verschwand dort an den zahllosen nebelverhangenen Tagen in der ungewissen Tiefe der Brackwasserkanäle der Unrat der Insel.

Zum Trocknen wurden die Torfziegel an den Zufahrtswegen zu kleinen achilleischen Pyramiden getürmt. In Plastiksäcke verpackt wurde die Ernte für den nächsten Winter von Traktoren mit doppelter Bereifung in die umliegenden Dörfer abgefahren.

Auch in dem Haus, das ihm die Ford Corporation zugewiesen hatte, war jeder Raum mit einem Torfkamin versehen. Nachdem Rita Connolly, die Concierge, ihm den Schlüssel übergeben und ein, zwei kehlige Worte zum Empfang gesagt hatte, zeigte sie ihm, wie, mit wenigen Handgriffen, ein Torffeuer entfacht werden konnte. Scherer begriff es nicht gleich, wollte sich als Großstadtmensch aber auch nicht bloßstellen und wagte nicht zu fragen.

Mrs. Connolly war brackwasserbedeckt von den Torffeldern gekommen: ein nasenbärtiges Ungetüm, in Küchenschürze und Stiefeln, aus denen dicke, irritierend bunte Wollstrümpfe lugten. Sie war auf einem Kleinmotorrad aus den 50er Jahren vorgefahren, das sich unter ihrer Last kaum von der Stelle bewegte. Mrs. Connolly zeigte Scherer einen für ihn schwer bestimmbaren Vorrat an Torf im Schuppen neben dem Haus. Dann sagte sie, dass er sich selbst um weiteres Brennmaterial kümmern müsse, wenn der Vorrat zur Neige gehe.

Die Kinder wurden nicht eines Blickes gewürdigt und hatten Angst vor ihr. Später gewöhnten sie sich an die abenteuerliche Erscheinung, wünschten sich bunte Strümpfe aus Schafwolle, die lang genug sein mussten, damit sie aus ihren Stiefeln schauten, und erprobten an den zähen Blättern der Agave, die über das Hoftor wachte, die guillotinierende Wirkung des Haifischgebisses, das Mrs. Connolly anstelle einer Motorradkette mit sich führte.

Einmal jedoch, noch ganz zu Anfang, wurde Rita Connolly in einem buckligen japanischen Kleinwagen neuester Produktion vorgefahren, um nach dem Rechten zu sehen. Eine, wie Scherer annahm, viel jüngere Frau saß hinter dem Steuer des roten Wägelchens, verschmähte es aber auszusteigen und verbarg sich ansonsten hinter den Wirtschaftsseiten der 'Irish Times'. Scherer vermochte zu seinem Leidwesen nicht viel von ihr zu erkennen, und bei dieser Concierge wollte er sich nicht nach einer anderen Frau erkundigen.

Das eigentliche Problem aber war, dass es, an Köln oder einer anderen europäischen Großstadt gemessen, weit und breit nichts zu kaufen gab. Der winzige Laden unten am Dugort Golden Strand hatte geschlossen. Bob Kingston, der Besitzer, war kurzerhand nach Wellington/Neuseeland ausgewandert, wo er den Baumarkt seines Onkels weiterführen sollte. Der nächste Laden lag nun mehr als drei Meilen über holprige Inselwege entfernt. Dort würde es, freilich ohne die für Mitteleuropa typische Erschwernis einer großen Auswahl, Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs geben.

Ihre Vorräte an internationalen Spezialitäten, Lieblingscerealien, Sweets und diversen Käsesorten, die sie von zu Hause mitgenommen oder noch auf dem irischen Festland eingekauft hatten, waren erschreckend rasch zur Neige gegangen. Und so empfand Scherer, als er zum erstenmal mit den Kindern vor den nicht gerade vollgestopften Regalen dieses universellen Ladens stand, so etwas wie ein Glücksgefühl. Selbst die Kinder griffen rechts und links nach seinen Händen und sahen, erleichtert, überhaupt etwas Essbares gefunden zu haben, ein wenig demütig zu ihm auf.

Dabei hätten die Regale, vor denen sie andächtig verharrten, im heimischen Superdiscount nicht einmal die Gewürzecke gefüllt, und die sogenannte Kühltheke kam leidlich auf die Hälfte des Volumens, das ihr amerikanisches Kühlsystem mit vollautomatischer Eiswürfelbereitung zu Hause in Nippes vorweisen konnte.

Dennoch, selbst Sabine schien aufrichtig dankbar.
- Noch mal Schwein gehabt, befand sie mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung, nicht wahr?
Georg wiederholte genüsslich: 'Swein gehabt!' Und ließ ein gackerndes Lachen hören, das er noch kurz vor der Abreise aus seinem Kindergarten mitgebracht hatte.

Im Laden erlosch das Licht. Aus irgendwelchen Gründen setzte jeden Tag um die Mittagszeit für zwei lange Stunden eine Stromsperre ein. Von draußen waren zugleich knatternde Motorgeräusche zu hören, ein Generator wurde angeworfen, und wenig später erschien im Dämmerlicht der Notbeleuchtung eine Frau und stellte sich hinter der Verkaufstheke in Position: Grace O'Malley.

Grace O'Malley war groß, schlank und kräftig. Sie hatte die bleiche Haut der keltischen Ureinwohner, runde, volle Schultern wie die netzeeinholenden Küstenfischer und, was ihre Liebhaber entzückte, kleine, zimtfarbene Brüste. Ihre Augen schweiften in der dunklen Algenfarbe des Meeres über den kleinen Laden, wo unter anderem die Post ein- und ausging, Versicherungen aller Art abgeschlossen wurden und eine vollständige Ausrüstung für das Hochseeangeln zu mieten oder zu kaufen war.

Merkwürdig genug für das stockkatholische Land war sie die ledige Mutter zweier Kinder, die nun etwa im gleichen Alter waren wie Sabine und Georg. Die Dorfbewohner hätten sich nicht lange geziert, alle drei auf einen Streich zu verachten, aber Grace O'Malley besaß weit und breit den einzigen Laden und galt zudem als wohlhabend. Im Hinterland hatte sie ausgedehnte Torfgruben, wo in der Saison eine Anzahl von Tagelöhnern aus dem Norden für sie arbeitete, und vor einigen Jahren war die alte Schule billig an sie gefallen, hübsch am Fuße des mächtigen Slievemore gelegen, mit Blick auf die malerische Bucht. Sie ließ das Gebäude jetzt Stück für Stück umbauen, zu einem Outdoor-Hotel für Jugendliche aus den Barrikaden-Städten des Nordens.

Auch die beiden Kutter des Dorfes waren unter ihrem Namen registriert. Bei sicherem Wetter fuhren vor Sonnenaufgang einige Männer von Purteen Harbour aus für sie aufs Meer. Seit jedoch Fabrikschiffe vor der Insel auftauchten und die Fanggründe im Namen der Europäischen Union leer räumten, kehrten die Kutter mit einer immer spärlicheren Beute zurück. Es blieben etwas Kabeljau, verschiedene Plattfische, ein paar kleinere Haie und Makrelen. Früher hatte sie sich ab und zu die Hummer bringen lassen, Wolfsbarsche und fette Lachse. Heute war die Fischerei an sich ein Zusatzgeschäft - wären da nicht die Touristen gewesen, die gut dafür zahlten, dass man sie mit hinausnahm. Die Fischer waren zu Schauspielern geworden, ähnlich den freilaufenden Schafen oder den brackwasserbedeckten Torfstechern.

Weil sie damals noch sehr jung und das Land unbarmherzig war, hatte Grace O'Malley ihre Schwangerschaften abtreiben wollen, es wegen höherer Gewalt jedoch nicht gekonnt: Die Matrosen der Fähre, mit der sie von Dun Laghoire bei Dublin nach Holyhead in Wales hatte übersetzen wollen, streikten wochenlang für bessere Arbeitsbedingungen (und die Fluglotsen mit ihnen). Das zweite Mal ließ ein Orkan die Schiffe nicht aus dem Hafen, und Grace O'Malley entschied, obwohl zweifelnd und hadernd mit diesem irischen Frauen so wenig zugetanen Gott, solche Fingerzeige dennoch zu achten.

Da sie die verschlungenen Wege des Kinderkriegens nun kannte und verlässliche Verhütungsmittel Achill kaum erreichten, lebte sie zeitweise wie eine Nonne. Die glutvolle Sehnsucht ihres Fleisches dämpfte sie für eine Weile - in schier endlosen Winternächten, wenn die Kinder fest schliefen und der schneidende Nordwest an den Dachschindeln rüttelte -, indem sie vorgab, sich auch selbst zu genügen.

Warum Grace O'Malley im Dämmerlicht der Notbeleuchtung selbst in dem kleinen Laden stand, blieb ihr Geheimnis. Ihre Art war dabei jedoch folgende: Sie ignorierte die Wünsche der Kunden nach Service, wies ihnen allenfalls die Stelle, wo etwas zu finden war, nahm den Gegenstand nur gnädig entgegen, zählte, wog oder maß, zumeist aber schätzte sie einfach und nannte für die Ware einen Preis, der umgehend in einer geheimnisvollen Summe verschwand: die sich allein in ihrem hübschen Kopf gebildet hatte. Der nächste Laden war weit.

Als Scherer mit den Kindern zum erstenmal bei Grace O'Malley kaufte, kurvte ihre Tochter Grace auf einem Dreirad zwischen den Regalen herum, gefolgt von Michael, ihrem kleinen Bruder, der hysterisch kreischte, weil er sein Spielzeug wiederhaben wollte. Grace O'Mallley fertigte den neuen Kunden scheinbar gleichgültig ab und verlor auch über die Kinder kein Wort, die sich seltsam abwartend gegenüberstanden, als hofften sie auf ein erlösendes Wort der Erwachsenen, um zueinander zu finden.

Scherer wusste nicht, was diese Frau hier machte: ob sie 'nur' verkaufte oder ob sie die Besitzerin war. Überdies fühlte er sich unsicher, was die seltsamen Regularien des Ladens anging. Schließlich suchte er sich rasch selbst die Sachen zusammen, die er haben wollte.

Als er das übliche vorgeschnittene, in Plastikfolie abgepackte Brot sah, fragte er dennoch nach einer Bäckerei.
- Es gibt keine! antwortete diese Frau.
- Und einen Fleischer?
- Am anderen Ende der Insel.
- Und wo kann ich telefonieren?
- Hinter dem Haus steht eine Telefonzelle. Nicht zu übersehen.
- Kann ich auch Faxe schicken und empfangen?
- Nein.
- Und wenn ich... ich meine, wir wohnen in dem Haus oben in Dugort, in der Nähe der Kirche... an der Wegbiegung...
Er wies mit einer hilflosen Geste ungefähr in die Richtung.
- Ja. Das wissen wir.
- Ach? Mein Name ist Hans Scherer, sagte er nun besonders freundlich. Und das sind Sabine und Georg.
- Dann haben die Kinder keine Mutter?
- Nein. Doch. Ich meine: sie ist nicht hier.
Die Frau hatte zwar bisher eher schroff geklungen. Aber seiner Not gehorchend, probierte Scherer es noch einmal.
- Wie gesagt, ich bin mit den Kindern allein hier... Ich suche eine Frau oder ein Mädchen, die ein wenig auf sie achten könnte, während ich arbeite. Kennen Sie vielleicht jemanden?
- Nein!
Sabine zupfte an seinem Ärmel. Er beugte sich zu ihr hinab, und sie wisperte ihm etwas ins Ohr. Mit einem verlegenen Grinsen richtete Scherer sich wieder auf.
- Ich glaube, wir sind auch knapp an Brennmaterial...
- Ja, antwortete sie, das glaube ich auch.
Es schien, als habe sie auf eine entsprechende Anfrage gewartet.
- Wissen Sie, wo man etwas kaufen könnte?
- Bei mir. Ich bin Grace O'Malley.
- Bei Ihnen, vergewisserte er sich, kann man wohl alles kaufen?
- Ja, antwortete Grace O'Malley. Das mag sein. (...)

mosaik