Erzählung
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Hatte er wirklich einen langgedehnten, nahezu schmerzerfüllten Schrei von sich gegeben, so dass die Piratin eine Hand über seinen Mund legen und ihn dann, wie um Schlimmeres zu verhüten, mit ihrem Mund verschließen musste?
Er hatte mehrmals Briefe mit Zeichnungen der Kinder an die deutsche Botschaft in Kuala Lumpur geschickt, mit der Bitte, sie an Paula weiterzuleiten. Aber er wusste nicht, wie lange es auf dem Postweg von Achill Island nach Kuala Lumpur dauerte. Manchmal stellte er sich Paula vor, wie sie sich durch den malaiischen Dschungel kämpfte und ab und zu eine Schlange, einen Vogel oder einen Affen nach dem nächsten Postoffice fragte. Paula hatte sich in den Wochen vor ihrer Abreise intensiv vorbereitet, nicht nur was ihr Fachgebiet im engeren Sinne betraf, sondern auch was die Geschichte, Kultur und Gesellschaft des südostasiatischen Landes anging. Die Reise galt einer bestimmten Schlingpflanzenart, die nur in den Küstendschungeln des Nordwestens vorkam. Wenn Paula den High Tech-Flughafen von Kuala Lumpur hinter sich ließ, würde sie geradewegs in den Dschungel vor der Straße von Malacca eintauchen, mit all seinen Gefahren - ein Aspekt ihrer Forschungsreise, der sie sehr gereizt hatte. Ob sie im malaiischen Dschungel manchmal an ihn dachte? An die Kinder dachte sie ohne Zweifel. Aber die Frage war: dachte Paula auch an ihn? Sein
Auslandseinsatz für die deutsche Tochter der amerikanischen Ford
Corporation und das Reisestipendium für Paula hatten sich wider Erwarten
überschnitten. Paula war mit einem Forschungsauftrag im Dschungel
Malaysias verschwunden - für Sabine und Georg, sechs- und dreijährig,
eine noch unverträglichere Gegend als der Westen Irlands. Daher waren
die Kinder an ihn gefallen. Ihren Verwandten und Freunden, großstädtische Menschen allesamt, ungebunden, oft kontinental unterwegs, Restaurantesser mit Verdauungsbeschwerden, Menschen, die sich mit Expressreinigungen auskannten und mit hinreichend dienstbereitem Personal, modernen Menschen also, waren Kinder nicht zuzumuten gewesen. Und die Großeltern lebten in komfortablen Seniorenheimen, die Meerschweinchen gestatteten und Wellensittiche, aber keine Kinder. Auch
auf der Insel wollte sie niemand. Die Frau, die sich bei der Ford Corporation
als deutschsprachiges Kindermädchen gemeldet hatte, war plötzlich
mit einem norwegischen Matrosen nach Kanada fortgegangen, und obwohl es
auf der kleinen Insel im Westen Irlands außerhalb der schmalbrüstigen
Feriensaison kaum etwas zu verdienen gab, sah es so aus, als wären
alle Frauen hinreichend damit beschäftigt, selbst Kinder zu haben
oder zu bekommen. Den lieben langen Tag schienen sie damit zu verbringen,
die kleinen Häuser in einer etwas zweifelhaften Ordnung zu halten
und ihre Familien mit nährstoffreichen Mahlzeiten zu versorgen. Wenn
das Wetter brauchbar war, trockneten zudem einige Kleidungsstücke
an der Leine, und Scherer dachte, weil es stets nur wenige waren, dass
für die Waschmittelwerbung, wie er sie von Deutschland kannte, auf
Achill Island kein Verständnis zu finden wäre: Wäscheberge,
wie in den Zentren der Zivilisation angezeigt, waren hier auf dem Lande
nicht zu bewältigen. Wie oft sollte er aber an dem wackligen kleinen Tischchen sitzen, das ihm als Schreibunterlage diente, für jene Studie, die er ausgerechnet hier im Auftrag der Ford Corporation zu erarbeiten hatte, und alle kontinentaleuropäischen Flüche, die ihm geläufig waren, zwischen den Zähnen zerreiben, weil er dem aktuellen Geschrei der Kinder entnehmen musste, dass sie ihn wieder nicht zur Arbeit kommen lassen wollten? Die Trennung von Paula war ein Desaster gewesen. Die Reise danach ebenso: auf einer überfüllten Fähre, in einer überheizten, engen Kabine. Sabine übergab sich beim Dinner, als sie entdeckte, dass das Zeug auf ihren Nudeln Garnelen waren, die sich im Auf und Ab des Schiffes noch zu bewegen schienen. In der Nacht träumte sie unruhig, und Georg pinkelte gegen zwei, wie von zu Hause gewöhnt, in seine Bettkoje; doch zu Hause war stets Paula zur Stelle gewesen. Schließlich lagen beide im unsteten Schlingern des betagten Seelenverkäufers auf der schmalen Pritsche in seinen Armen und schliefen bald wieder ein. Scherer hingegen wurde durch die kreatürlich tiefen Atemzüge ebenso wie durch zahllose Bodychecks wachgehalten bis in den grauen Irlandmorgen, der mit Nieselregen gegen ihr Bullauge blies.
Immerhin, die Kinder hatten Raum für ihre Spiele. Vor dem Schlafengehen und nach dem Aufstehen jagten sie die pfeilschnellen irischen Spinnen, verfolgten sie durch sämtliche, von geduldigen Generationen mürbe gewohnten Zimmer. Tagsüber sammelten sie behäbige Kellerasseln und sortierten sie in Streichholzschachteln nach Größe. Oder sie reizten die sanftmütigen Skorpione der Insel, bevor sie die fingergroßen Tiere mit Bedacht zertraten. Um das
Haus selbst zog unermüdlich eine Herde phlegmatischer Rinder, mit
weißem oder schwarzem Rücken. Zeitweise machten sie mit ihren
Fladen das Tor unpassierbar. Die Schafe der Insel hingegen trieben sich
auf den abschüssigen Landstraßen herum. Die dummen Tiere, gefräßig
und ohne Zahl, wurden jetzt von kräftigen Lämmern begleitet,
und schwarzglänzende Kotmurmeln rollten von Sonnenaufgang bis tief
in die Nacht hinein am Cottage vorbei hinunter zum Strand. Scherer
sah darin eine Anklage und reagierte anfangs häufig ungerecht. Auch
wurde er schnell unsicher und nervös, wenn die Kinder weinten oder
stritten. Wenig geübt im ständigen Umgang mit den beiden, sah
er ihr Verhalten als Undankbarkeit an gegenüber seinen Bemühungen,
ihnen auch in der irischen Wildnis ein menschenwürdiges Leben zu
ermöglichen. Er versuchte ihnen klarzumachen, dass es sich nur um
einen Aufenthalt von drei Monaten handelte. Aber die Kinder hatten weder
Zeitgefühl noch eine angemessene Vorstellung von Time -Management
und weigerten sich einfach, dem Trost einer so ungewissen Hoffnung nachzugeben.
Im Lauf
der Zeit gab es im Zusammenleben mit den Kindern freilich mehr und mehr
erträgliche Momente, in denen ihm seine hektische Ungeduld peinlich
war, weil er in ihrem Spiel den unersättlichen Drang nach Liebe entdeckte.
Weil er entdeckte, was ihm zu Hause, wo alles seinen unheroischen Ablauf
hatte, mit Kindergarten und Babysitter, mit Paula und Überstunden
und vorterminierten Wochenenden, vermutlich entgangen war: dass in ihren
so lächerlich kreatürlichen Bedürfnissen genug Kraft war,
um ihn von einem auf den anderen Augenblick sanft und duldend zu machen
- und zugleich bereit für jene endlose Palette unlogischer Dinge,
die Sabine und Georg ständig und überall im Sinn hatten. Hin
und wieder freilich kamen Georg und Sabine nun auch, um nur in den Arm
genommen zu werden. Zwei, drei Sekunden, und dann war es gut. Mochte
die Vegetation auf Achill Island im allgemeinen auch karg und abweisend
sein -: im fortgeschrittenen Frühling blühten in den geschützteren
Tallagen Ginster und Rhododendron in verschwenderischer Fülle. Überall
leuchteten in der eintönig braunen Heide- und Moorlandschaft die
intensivgelben oder blaßlila-farbenen Inseln. Auch
in dem Haus, das ihm die Ford Corporation zugewiesen hatte, war jeder
Raum mit einem Torfkamin versehen. Nachdem Rita Connolly, die Concierge,
ihm den Schlüssel übergeben und ein, zwei kehlige Worte zum
Empfang gesagt hatte, zeigte sie ihm, wie, mit wenigen Handgriffen, ein
Torffeuer entfacht werden konnte. Scherer begriff es nicht gleich, wollte
sich als Großstadtmensch aber auch nicht bloßstellen und wagte
nicht zu fragen. Einmal jedoch, noch ganz zu Anfang, wurde Rita Connolly in einem buckligen japanischen Kleinwagen neuester Produktion vorgefahren, um nach dem Rechten zu sehen. Eine, wie Scherer annahm, viel jüngere Frau saß hinter dem Steuer des roten Wägelchens, verschmähte es aber auszusteigen und verbarg sich ansonsten hinter den Wirtschaftsseiten der 'Irish Times'. Scherer vermochte zu seinem Leidwesen nicht viel von ihr zu erkennen, und bei dieser Concierge wollte er sich nicht nach einer anderen Frau erkundigen. Das
eigentliche Problem aber war, dass es, an Köln oder einer anderen
europäischen Großstadt gemessen, weit und breit nichts zu kaufen
gab. Der winzige Laden unten am Dugort Golden Strand hatte geschlossen.
Bob Kingston, der Besitzer, war kurzerhand nach Wellington/Neuseeland
ausgewandert, wo er den Baumarkt seines Onkels weiterführen sollte.
Der nächste Laden lag nun mehr als drei Meilen über holprige
Inselwege entfernt. Dort würde es, freilich ohne die für Mitteleuropa
typische Erschwernis einer großen Auswahl, Lebensmittel und andere
Dinge des täglichen Bedarfs geben. Grace
O'Malley war groß, schlank und kräftig. Sie hatte die bleiche
Haut der keltischen Ureinwohner, runde, volle Schultern wie die netzeeinholenden
Küstenfischer und, was ihre Liebhaber entzückte, kleine, zimtfarbene
Brüste. Ihre Augen schweiften in der dunklen Algenfarbe des Meeres
über den kleinen Laden, wo unter anderem die Post ein- und ausging,
Versicherungen aller Art abgeschlossen wurden und eine vollständige
Ausrüstung für das Hochseeangeln zu mieten oder zu kaufen war.
Weil
sie damals noch sehr jung und das Land unbarmherzig war, hatte Grace O'Malley
ihre Schwangerschaften abtreiben wollen, es wegen höherer Gewalt
jedoch nicht gekonnt: Die Matrosen der Fähre, mit der sie von Dun
Laghoire bei Dublin nach Holyhead in Wales hatte übersetzen wollen,
streikten wochenlang für bessere Arbeitsbedingungen (und die Fluglotsen
mit ihnen). Das zweite Mal ließ ein Orkan die Schiffe nicht aus
dem Hafen, und Grace O'Malley entschied, obwohl zweifelnd und hadernd
mit diesem irischen Frauen so wenig zugetanen Gott, solche Fingerzeige
dennoch zu achten. Warum Grace O'Malley im Dämmerlicht der Notbeleuchtung selbst in dem kleinen Laden stand, blieb ihr Geheimnis. Ihre Art war dabei jedoch folgende: Sie ignorierte die Wünsche der Kunden nach Service, wies ihnen allenfalls die Stelle, wo etwas zu finden war, nahm den Gegenstand nur gnädig entgegen, zählte, wog oder maß, zumeist aber schätzte sie einfach und nannte für die Ware einen Preis, der umgehend in einer geheimnisvollen Summe verschwand: die sich allein in ihrem hübschen Kopf gebildet hatte. Der nächste Laden war weit. Als
Scherer mit den Kindern zum erstenmal bei Grace O'Malley kaufte, kurvte
ihre Tochter Grace auf einem Dreirad zwischen den Regalen herum, gefolgt
von Michael, ihrem kleinen Bruder, der hysterisch kreischte, weil er sein
Spielzeug wiederhaben wollte. Grace O'Mallley fertigte den neuen Kunden
scheinbar gleichgültig ab und verlor auch über die Kinder kein
Wort, die sich seltsam abwartend gegenüberstanden, als hofften sie
auf ein erlösendes Wort der Erwachsenen, um zueinander zu finden.
Scherer
wusste nicht, was diese Frau hier machte: ob sie 'nur' verkaufte oder
ob sie die Besitzerin war. Überdies fühlte er sich unsicher,
was die seltsamen Regularien des Ladens anging. Schließlich suchte
er sich rasch selbst die Sachen zusammen, die er haben wollte. |