Nach der Schule hatte Bel dies und das ausprobiert, ohne sich
entscheiden zu können. Oft gab es deswegen Streit mit dem
Vater. Ich fragte Bel erneut, was es damit auf sich hatte. Und
wieder antwortete sie ausweichend. Natürlich wollte ihr
Vater, dass sie studierte. Jura. Betriebswirtschaft. Aber Bel
fand etwas bei einem griechischen Schneider, lernte den Umgang
mit Nadel und Faden. Nach ihrer Lehre ging sie für ein
Jahr nach Mailand, vor allem des Big Business wegen, wie sie
sagte. Später zog es sie an die Seine.
Ihr
Vater half ihr mit Beziehungen. Er hatte sehr gute Beziehungen,
soviel hatte ich schon mitgekriegt. In Paris arbeitete Bel bei
verschiedenen Couturiers und verschiedene Couturiers erprobten
ihre Fähigkeiten. (Bel drückte sich bewusst zweideutig
aus. Längst war ich eifersüchtig.) Sie nähte,
entwarf, half bei den Vorbereitungen für die Frühjahrs-
und Herbstshowen, war bei Verhandlungen mit Stoffherstellern
dabei und wenn wichtige Labels zu bedienen waren. Geschäft.
Big Business.
Doch
ausgerechnet eine Frau, Madame Claude, sagte eines Tages zu
ihr (in einem ungeduldigen Ton, als gelte es, einen alten Fehler
zu korrigieren): "Mach was aus dir, Kleine - aber da oben,
auf dem Laufsteg!"
Das hieß: Madame Claude, die neben den giraffengleichen
Models klein und unscheinbar wirkte, glaubte nicht, dass die
Arbeit Backstage für Bel das Richtige war. Bel war damals
Anfang zwanzig und kannte die Branche schon recht gut. Sie war
nicht mehr naiv, aber auch nicht in allen Dingen erfahren, und
sie folgte dem lakonischen Wink von Madame Claude. Hinzu kam
ihre Schönheit. Sie war wirklich schön. Und wie man
Blicke auf sich lenkte, brauchte sie nicht erst zu lernen.
Sieben Jahre blieb sie bei dem 'Zirkus'.
"Daher stammt eine fundamentale Abneigung", erklärte
sie mir, als sie sich zum ersten Mal auszog, "gegen den
String!"
Es war Berufskleidung für sie, die sie ablegte, wenn die
Arbeitszeit ändete. Jedenfalls in späteren Jahren.
Immer
wieder waren es die gleichen Situationen gewesen: Raus aus den
Klamotten, raus aus den Strumpfhosen und in Windeseile die neuen
schwarzen, roten oder farblosen über. In die Hocke und
sich dehnen, bis die letzten Falten verschwunden waren.
"Schnell schnell schnell, Kinder!"
Reißverschlüsse, bedient durch Anziehhilfen. Reißverschlüsse,
die sirrten nur so.
Und wie, oh falsche Liebeslust, die Klamotten wieder vom Leibe
flogen.
"Her damit!"
"Beeilung, Kinder!"
Viele Hände. Von vorn, von hinten, von oben und unten zugleich,
von den Seiten.
So viele Hände. Einige Male, wenn wir zusammen waren, wollte
sie nicht, dass ich sie anfasste. Sie wollte mit mir schlafen.
Sie wollte berührt werden. Aber sie wollte keine Hände
auf ihrem Leib. Das war nur manchmal so. Für mich jedes
Mal unerwartet, ohne erkennbaren äußeren Anlass.
Sodass ich es als Variante hinnehmen konnte. Ich war sehr erregt.
"Bück dich, mein Engel!"
"Dreh dich um, mein Schatz!"
"Streck dich! Na los, mach schon!"
Enge und Disziplin. Überall warteten schon Kleiderreihen,
Nummern und Polaroids, nach denen man auszusehen hatte.
"Genau so will ich das!" Stets gab es jemanden,
der das sagte.
Eine Baustelle des Chaos. Kleiderstangen. Accessoires. Kistenweise.
Menschenpuppen. Handwerker. Mehr, als man sonst je zu Gesicht
bekam. Frisöre und Visagisten, Stylisten, Designer, Aus-
und Anziehhilfen.
"Mach was aus dir, Bel!" hatte es geheißen.
"Aber da oben!"
Vielleicht hatte Madame Claude sie nur billig loswerden wollen?
Aber Bel wollte davon nichts mehr hören. Oder sie wollte
die Horrorgeschichten vergessen. Sie erzählte von Mädchen,
die sich die untersten Rippen entfernen ließen, um die
Taille zu strecken. Die ihren Busen aufpumpen oder die Lippen
mit Silikon konturieren ließen. Und Weisheitszähne
zog man, damit die Wangenknochen mehr hervor traten.
Zuchtauswahl: Beine, Taille, Busen, Haut, Gesicht.
Die Make-up-Orgien mit Schwämmchen, Puderquaste, Rougepinsel,
Eyeliner und Wimpernzange. Die ewige Haarentfernung. Die Massen
von Heißluftföhns wie im städtischen Hallenbad,
Lockenstäbe wie in Reihenhaussiedlungen, Strumpfknäuel,
Schmuckhäufchen, Sonnenbrillen, Kämme, Aschenbecher.
Rauchen war gut für die Figur.
Proletarisches Milieu.
Dann die Erregung, die vor dem ersten 'Bild' um sich griff.
Alles schien wie hypnotisch darauf zuzusteuern. Vollblüter,
die in ihre Rennboxen geführt wurden. Das Gesicht unter
der Make-up-Maske. Doch die Augen mussten funkeln!
"Position!"
Der schneidende Ruf der Direktrice um Ruhe. Der Augenblick bevor
das Tor geöffnet wurde. Die letzte Musterung. Dann gerieten
die Gliederpuppen in Bewegung, das Vokabular wurde angeklickt,
Blicke, Posen, das Lächeln, der Augenaufschlag, der Hüftschwung
abgerufen.
Vor allem der Hüftschwung.
"Kehrt!"
Danach war es ein Austrieb der Masken wie an Aschermittwoch.
Hinterausgänge. Müde, seltsam unspektakuläre
Gesichter. Nahezu unbeobachtet, in alten Jeans, Lieblingsshirt
und Turnschuhen, suchten die 'Mädchen' ein Taxi.
Davon hatte sie nach sieben Jahren weiß Gott genug.
Und die Kleider?
Sie würde schönere machen!
"Mach
was aus dir, Mädchen!" hatte es irgendwann geheißen:
"Aber nicht mehr da oben!"
Wer, welche Frau hatte ihr das gesagt? Mit Ende zwanzig war
ihre Zeit als Model so gut wie vorbei. Jil? Oder Rosita? Oder
Donatella? Oder war es nur ein Wink, ein bestimmter Ausdruck
in den Augen eines Mannes gewesen?
Ich horchte auf. Aber auch das hatte sie vergessen wollen.