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< ..Die Jüdin [1] ....../ / / .Reichstage. Roman



 

Ich war sicher, dass es Mord war. Kein Unfall. Kein Selbstmord. Es war Mord. Es ging nicht um Liebe oder Eifersucht, wie man behauptet hat. Es ging um viel Geld. Und natürlich um Macht.

Es begann für mich im Frühsommer 89. Für andere mag es schon ein paar Jahre früher begonnen haben. Viel früher. Aber für mich begann es im Frühsommer 89.

Ich denke 'Herumtreiber' ist ein harter Ausdruck. Aber damals war er das Richtige für mich. Genau das Richtige. Ich trieb mich herum. Und so war das Zusammentreffen mit Bel nicht mehr als ein Zufall.

Mein Vater lag im Krankenhaus. Seit Wochen lag er im Koma, und ich wollte ihm einen warmen Pullover kaufen, weil es auf der Intensivstation irgendwie kühl war. Seine Haut fühlte sich so kühl und glatt an, dass er mir Leid tat. Er lag nackt auf einem Bett, nur mit einem dünnen Hemd bekleidet. Schläuche gingen von ihm aus und führten zu ihm hin. Kühl und glatt.

Demnächst wurde er 61 (wenn er das Alter noch erreichte), und ich wollte ihm einen Pullover kaufen. Ich dachte an Rot oder Grün. Das waren die Farben, die er mochte. Grün, weil er seit mehr als dreißig Jahren Blumengroßhändler war. Rot, weil Rosen seine Lieblingsblumen waren. Zum Einkaufen waren mir die großen Kaufhäuser in der Kölner City am liebsten, wo man unter Bergen von Ware ungestört herum laufen konnte. Immer auf der Suche nach Rot oder Grün. Ausgerechnet da traf ich Bel...

Jüdin. Ich hörte nur das Wort und wusste nicht, um was es ging. Aber es war laut ausgesprochen worden und sobald das Wort fiel, wurde es auffällig ruhig in der Abteilung. Zehn oder zwölf Kunden. Man schaute sich irritiert um. Niemand wusste etwas dazu zu sagen.

Die Frau sollte einen Pullover geklaut haben und dann, nachdem sie erwischt worden war, gesagt haben, dass sie Jüdin sei. Das war das Wort. Deshalb war ich stehen geblieben. Deshalb hörte ich mir das Ganze an. Das ist schon kess! dachte ich. Ganz schön kess! Ich sah, dass diese Frau relativ jung und ungewöhnlich schön war. Vielleicht gab es etwas abzustauben. Jedenfalls, irgendetwas zog mich an.

Inzwischen war der Abteilungsleiter anwesend. Ein Bubi mit Anzug und Krawatte, nach hinten gegeeltes Haar. Ich sah ihm an, dass er Routine abwickeln wollte. Eine Ladendiebin. Polizei. Fertig. Doch es kam ganz anders: als er von dem Verkäufer hörte, was die Frau gesagt hatte, begann er sich zu entschuldigen, ohne sich weiter über die Sachlage zu informieren. Mit geradezu barschen Anweisungen sorgte er dafür, dass sich auch der verwirrte Verkäufer vor den Umstehenden entschuldigte. Es schien eine spezielle Dienstanweisung zu existieren. Mir tat der Knabe fast Leid.

Die Frau, sie mochte Anfang 30 sein, groß und dunkelhaarig, nahm nach ihrem anfänglichen Lamento die Entschuldigung ruhig entgegen und bahnte sich dann wortlos einen Weg durch die Zuschauer. Ich schob mich so vor, dass sie nah an mir vorbei musste: "Ich hab noch nie eine Jüdin kennen gelernt", sagte ich leise in ihr Ohr: "Schon gar keine, die klaut!"
Ein unwilliger Blick für die Kategorie 'lästig': "Verpiss dich!"
"Nein!"
Sie schien zu überlegen, dann wies ihr Kinn voraus. Ich folgte ihr mit einigem Abstand in ein nah gelegenes Straßencafé.
"Was willst du?"
"Wo ist der Pullover?"
Sie schaute ungläubig, dann zog sie mit einem Achselzucken das Teil aus ihrer großen Umhängetasche. Rot. Kaschmir.
"Du hast das Sicherungsetikett heraus geschnitten?"
"Gefällt er dir?"
"Ich weiß nicht! Wie heißt du?" fragte ich, erwartete aber keine Antwort.
Doch sie sagte (mit einem Augenaufschlag, der wohl bedeutete: 'Das kostet mich ja noch nichts, mein Junge!'):
"Bel."
"Probier ihn an, Bel! Dann sage ich dir, ob er mir gefällt."
Bel grinste: "Ich nehme einen Espresso!"
Sie verschwand in Richtung WC. Ich bestellte und zog vom Nebentisch eine Zeitung, um die Schlagzeilen zu überfliegen. Dann stand sie schon wieder vor mir.

Der Pullover saß sehr eng und war tief ausgeschnitten.
"Nicht übel. Bel und...? Wie heißen Sie noch?"
Sie nahm ihren Espresso. "Bel reicht erst mal. Und Sie?"
"Tom. Das war sehr selbstbewusst, Bel! Vorhin."
"Sie meinen: für eine Jüdin? Ich bin nicht immer Jüdin. Hilft aber manchmal!"
"Netter Trick."
"Vielleicht ist es ja kein Trick."
"Und wenn ich Jude wäre?"
"Oh lala!" Sie schien jetzt überrascht, schaute rechts und links an mir vorbei: "Deine Nase ist schön gerade!"
"Und meine Ohren stehen nicht ab! Aber das hätte ich verändern lassen können."
"Stimmt!" gab sie zu. "Die Eltern einer Freundin haben sich die Nasen richten lassen, bevor sie aus den USA nach Deutschland zurückkehrten. Du bist kein Jude, stimmt 's?" Bel warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. "Ich werde jetzt gehen!"
"Warum tust du das? Du siehst nicht aus, als ob du das nötig hättest."
Ich sah, dass sie zögerte, ob sie darauf ernsthaft antworten sollte: "Manchmal reizt es mich!"
"Gibst du mir deine Nummer?"
"Nein!" Ich beeilte mich ein paar Ziffern auf den Kassenbon zu werfen und schob ihn ihr hin. Sie schob ihn zurück: "Ich rufe niemals Männer an!"


Ich folgte ihr heimlich. Erstens weil sie gut aussah. Zweitens weil ich die Nummer mit der Jüdin originell fand. Und drittens weil sie mich an ein Mädchen erinnerte. Das lag zwar mehr als 20 Jahre zurück, aber jetzt kam es mir wieder in den Sinn. Ich konnte mich nicht einmal an den Namen des Mädchens erinnern (oder ich hatte ihn verdrängt). Es ging in meine Schule und lud mich eines Nachmittags zu sich ein. Ich erinnere mich, dass sie eine Art Anne-Frank-Frisur gehabt hatte (wobei ich erst sehr viel später von Anne Frank hörte und ein Bild von ihr zu sehen bekam). Jedenfalls erinnerte mich Bel irgendwie an das Mädchen mit der Anne-Frank-Frisur.

Bel ging in westlicher Richtung bis in Belgische Viertel. Dort verschwand sie schließlich in einer Boutique. In Neonschrift war über dem Laden zu lesen: 'Bel Buchmann. Mode' Ich musste laut lachen, als ich davor stand. Das und ihre 'jüdischen' Diebstähle - irgendwie passte das nicht zusammen.
Sie schien mich schon erwartet zu haben. Bel stand auf einmal in der Tür und bat mich mit einer leicht ironischen Geste herein. Es war kurz vor Geschäftsschluss. Sie zeigte mir ihren Laden. Als ihre Angestellten, zwei junge Mädchen, gegangen waren, zeigte sie mir neue Entwürfe.
Ich fragte, ohne mir etwas dabei zu denken: "Auch geklaut?"
Sie schaute mich böse an: "Bist du verrückt!"
Ich lachte über ihre Empörung und sagte zu meiner Entschuldigung: "Ich habe Null Ahnung von Mode!"
Ich wusste noch nicht, dass schon der Verdacht, einen Entwurf geklaut zu haben, in dieser Branche so ziemlich das Schlimmste war, was einem Designer passieren konnte.
Bel sagte: "Dann werde ich dir alles beibringen!"
Irgendwann nahm sie mich mit zu sich nach Hause. Für eine Weile sah es gut aus zwischen uns.



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Köln
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Leipzig
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Narff
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Köln, Frühsommer 89


Bisherige Kapitel mit Bel:
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