Ein
Unfall in der Etappe, nicht etwa durch Kampfeinwirkungen. Ein
deutscher Exilkommunist in der stalinistischen Sowjetunion.
Die Mutter sprach offen davon, dass dem Vater nicht fachgerecht
geholfen worden war. Der Vater wollte das nie zugeben. Er hatte
die Wahrscheinlichkeit der Kriegsjahre für sich, in denen
schon das Überleben ein Wunder war.
Ein
kleiner Mann, in einem erkennbar guten zweireihigen Anzug, gefertigt
von polnischer oder tschechischer Schneiderkunst. Erst wenn
Oberst Thorn, hervorgehoben durch seine Position, vor die Augen
einer Parteiversammlung humpelte, zeigte der Anzug unbarmherzig,
dass er sich nur schlecht einem Körper anzupassen vermochte,
der keine normalen Abläufe mehr kannte.
Die Mutter hielt sich bei diesen öffentlichen Auftritten
zwei Schritte hinter ihm. Wie eine Pflegerin, die ihren Patienten
begleitete. Eine anmutige und elegante Frau, die zwar wusste,
dass sie keinen westlichen Moden nachlaufen durfte, aber die
Führung der Arbeiterklasse mit zu repräsentieren hatte.
Frederik konnte sich nicht erinnern, sie jemals in einer einfachen
Kittelschürze wie andere Hausfrauen gesehen zu haben. Ihre
Kleider schneiderte sie sich selbst, nach westlichen Vorbildern,
die sie für den Sozialismus abwandelte, wehmütig die
Eleganz der frühen 30er-Jahre vor Augen.
In späteren Jahren erschien sie bei den Parteiveranstaltungen
mit einer Routine, in der hoffnungslose Gleichgültigkeit
herangewachsen war. Wenn der Vater nervös oder erregt den
verbliebenen Stumpf rieb, legte sie ihre Hand auf seine eigentümlich
kurze Schulter, nachlässig zuerst, später auf eine
Weise, dass die Handknöchel blass wurden.
Der Junge bekam ein Auge dafür.
Nur wenn Ruthenbeck, der 'Onkel', zu Besuch kam, war alles anders.
Dann zog die Mutter ein besonderes Kleid an, scheinbar beiläufig,
aber doch so sorgfältig und bemüht, dass es selbst
dem Vater auffiel. Sie buk einen Kuchen (was sie sonst ungern
tat, sie war keine Hausfrau) und nutzte einmal die Beziehungen
Thorns, um guten Bohnenkaffee aufzutreiben.
Wenn Ruthenbeck dann endlich an der Haustür klingelte,
warf sie noch einen raschen prüfenden Blick auf den Spiegel
im Flur und eilte freudig zur Tür, in einer Weise, die
sonst nie an ihr zu sehen war: Die Mutter hatte plötzlich
einen mädchenhaft leichten Gang, der umso fremder wirkte,
weil sie sich nie dergleichen erlaubte, wenn der Vater in der
Nähe war. Doch stellte sich dieser Gang nur ein, wenn die
Mutter zuvor mit einem Blick aus dem Küchenfenster gesehen
hatte, dass Ruthenbeck allein war. Allein, das hieß, mit
Fahrer, aber ohne Marianne. Ruthenbeck wusste von der Vorliebe
der Mutter für Frederik Chopin. Manchmal brachte er ihr
Aufnahmen mit. Am liebsten waren ihr die Nocturnes. War
in der Hauptstadt ein Konzert angekündigt, bemühte
er sich um eine Karte für sie.
Als irgendwann alle Naivität ein Ende fand, trat an deren
Stelle bei Frederik ein angespanntes Beobachten: Was bedeutete
es, wenn die Mutter es so einrichtete, dass sie und Ruthenbeck
sich gegenübersaßen und ihre Blicke manchmal verharrten,
für wenige Sekunden? Was bedeutete es, wenn der General
den Kuchen und den Kaffee lobte? Was bedeutete es, wenn er eine
Bemerkung darüber machte, dass das Kleid der Mutter gut
zu Gesicht stehe? Was geschah mit der Mutter und mit dem Patenonkel,
dass sie sich in dieser Weise veränderten, wenn sie einander
sahen? Und was sprachen sie miteinander, wenn sie einen Augenblick
lang allein waren? Was taten sie sonst miteinander? Es kam ihm
so vor, als legten sie es darauf an, keinen Verdacht zu erregen,
und wirkten gerade darum verdächtig.
Doch der Vater schien nie etwas zu bemerken. Das gläserne
Reich der Gefühle erkannte er aus guten Gründen nicht
an. Für Frederik war nicht klar, ob dabei die Parteiarbeit
eine Rolle spielte oder ob es sich um eine eigene unauslöschliche
Prägung handelte, die längst vor der Schule des Stalinismus
erworben worden war.
Später wurde Frederik bewusst, dass die seltenen Nachmittage,
wenn Ruthenbeck zu Besuch kam, auch eine Tortur für die
Mutter sein mussten - die sie gleichwohl herbeisehnte.
Die Beziehung zwischen den beiden Männern bildete den äußeren
Rahmen der Besuche. Stets ging es dabei um die Partei. Ausgangspunkt
waren dabei die weit zurückliegenden Erinnerungen an die
Zeit des gemeinsamen Widerstands gegen die Nationalsozialisten.
Die beiden Männer waren über eine lange Zeit hinweg
Freunde gewesen. Sie waren mit den gleichen Idealen groß
geworden und hatten den Faschismus überlebt. Das hielt
selbst in den Jahren des Stalinismus. Die Freundschaft löste
sich erst, als nach dem Tod des Diktators eine grundsätzlich
andere Interpretation des Sozialismus möglich schien. Ruthenbeck
gehörte zu denen, die es damit versuchen wollten. Thorn
war strikt dagegen.
Die Besuche wurden in der Folge seltener. Doch Ruthenbeck begleitete
auch weiterhin aufmerksam Frederiks Entwicklung: seine Zeit
bei der Nationalen Volksarmee, wo er bald dem Generalstab zugeordnet
wurde, und seine Arbeit im Ministerium für Staatssicherheit.
Ruthenbeck protegierte ihn im Hintergrund. Als Frederik nach
dem Einsatz am Brandenburger Tor um Versetzung nachsuchte, sorgte
er dafür, dass eine relativ neutrale Erklärung gefunden
wurde.
Der
Ausgangspunkt für die Debatten war im Grunde beliebig.
Beschlüsse des ZK waren stets allgegenwärtig ebenso
wie unerfreuliche Entwicklungen in der sozialistischen Gesellschaft.
Sie bedurften jedenfalls der Interpretation. Die Weltlage war
zudem immer und überall bedrohlich. Man musste wachsam
sein.
Zumeist war es Thorn, der begann. Er fragte mit hinterhältig-gierigem
Ausdruck nach Neuigkeiten aus Berlin. (Obwohl man selbst kaum
mehr als dreißig Kilometer von Berlin-Mitte im märkischen
Sand steckte. Mindestens zweimal in der Woche hatte er Kontakt
zu hohen Parteistellen.)
Ruthenbeck erzählte gewöhnlich von Beschlüssen,
die Thorn längst kannte. Der General etwa berichtete vom
Ergebnis der letzten ZK-Sitzung, auf dem offiziell eine bedingungslose
Befürwortung der Entspannungspolitik beschlossen worden
war. Ruthenbeck teilte anschließend seine Zufriedenheit
darüber mit. Das Wettrüsten sei nicht nur volkswirtschaftlich
gesehen reiner Wahnsinn.
"Unsere Verteidigungsbereitschaft", beharrte dann
Thorn, "ist die alleinige Garantie dafür, dass sich
der Sozialismus weiterhin ungestört entwickeln kann."
Das Gesicht des Generals verfinsterte sich: "Aber zugleich
strangulieren wir uns selbst. Es ist ein hoher Preis, den wir
zahlen."
"Du meinst, der Sozialismus ist preiswerter zu haben? Weißt
du, Genosse, es ist ein Zeichen für Konterrevolution und
allgemeinen Verfall, wenn wir beginnen, um den Preis zu feilschen,
der uns der Sozialismus wert sein darf."
"Vielleicht ist es auch ein Zeichen von Reife, wenn wir
nach den Kosten fragen. Warum sollte der Sozialismus nicht aus
seiner Eigenart heraus die Kraft entwickeln, sich zu verteidigen?
Und zwar mehr, als wir es ihm bisher zutrauten?"
"Aber das ist ja doch wohl längst erwiesen, dass der
Sozialismus, wie er in der DDR praktiziert wird, sich gegen
alle Anfeindungen des Kapitalismus und des Imperialismus als
immun erwiesen hat. Trotzdem müssen wir wachsam sein! In
jeder Gesellschaft gibt es Abweichler und Störenfriede,
denen wir nicht das Feld überlassen dürfen."
"Was schadet es schon, Thorn, wenn wir in den Betrieben
und Universitäten mehr Diskussionen zuließen?"
"Ja, warum nicht! Gut, gut. Lass' sie diskutieren. Aber
das Ergebnis muss feststehen. Und die Partei der Arbeiterklasse
muss unantastbar sein!"