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< ..Die Wahrscheinlichkeit der Kriegsjahre [8] ......

/ / / .Reichstage. Roman




Ein Unfall in der Etappe, nicht etwa durch Kampfeinwirkungen. Ein deutscher Exilkommunist in der stalinistischen Sowjetunion. Die Mutter sprach offen davon, dass dem Vater nicht fachgerecht geholfen worden war. Der Vater wollte das nie zugeben. Er hatte die Wahrscheinlichkeit der Kriegsjahre für sich, in denen schon das Überleben ein Wunder war.

Ein kleiner Mann, in einem erkennbar guten zweireihigen Anzug, gefertigt von polnischer oder tschechischer Schneiderkunst. Erst wenn Oberst Thorn, hervorgehoben durch seine Position, vor die Augen einer Parteiversammlung humpelte, zeigte der Anzug unbarmherzig, dass er sich nur schlecht einem Körper anzupassen vermochte, der keine normalen Abläufe mehr kannte.

Die Mutter hielt sich bei diesen öffentlichen Auftritten zwei Schritte hinter ihm. Wie eine Pflegerin, die ihren Patienten begleitete. Eine anmutige und elegante Frau, die zwar wusste, dass sie keinen westlichen Moden nachlaufen durfte, aber die Führung der Arbeiterklasse mit zu repräsentieren hatte. Frederik konnte sich nicht erinnern, sie jemals in einer einfachen Kittelschürze wie andere Hausfrauen gesehen zu haben. Ihre Kleider schneiderte sie sich selbst, nach westlichen Vorbildern, die sie für den Sozialismus abwandelte, wehmütig die Eleganz der frühen 30er-Jahre vor Augen.

In späteren Jahren erschien sie bei den Parteiveranstaltungen mit einer Routine, in der hoffnungslose Gleichgültigkeit herangewachsen war. Wenn der Vater nervös oder erregt den verbliebenen Stumpf rieb, legte sie ihre Hand auf seine eigentümlich kurze Schulter, nachlässig zuerst, später auf eine Weise, dass die Handknöchel blass wurden.
Der Junge bekam ein Auge dafür.
Nur wenn Ruthenbeck, der 'Onkel', zu Besuch kam, war alles anders. Dann zog die Mutter ein besonderes Kleid an, scheinbar beiläufig, aber doch so sorgfältig und bemüht, dass es selbst dem Vater auffiel. Sie buk einen Kuchen (was sie sonst ungern tat, sie war keine Hausfrau) und nutzte einmal die Beziehungen Thorns, um guten Bohnenkaffee aufzutreiben.

Wenn Ruthenbeck dann endlich an der Haustür klingelte, warf sie noch einen raschen prüfenden Blick auf den Spiegel im Flur und eilte freudig zur Tür, in einer Weise, die sonst nie an ihr zu sehen war: Die Mutter hatte plötzlich einen mädchenhaft leichten Gang, der umso fremder wirkte, weil sie sich nie dergleichen erlaubte, wenn der Vater in der Nähe war. Doch stellte sich dieser Gang nur ein, wenn die Mutter zuvor mit einem Blick aus dem Küchenfenster gesehen hatte, dass Ruthenbeck allein war. Allein, das hieß, mit Fahrer, aber ohne Marianne. Ruthenbeck wusste von der Vorliebe der Mutter für Frederik Chopin. Manchmal brachte er ihr Aufnahmen mit. Am liebsten waren ihr die Nocturnes. War in der Hauptstadt ein Konzert angekündigt, bemühte er sich um eine Karte für sie.

Als irgendwann alle Naivität ein Ende fand, trat an deren Stelle bei Frederik ein angespanntes Beobachten: Was bedeutete es, wenn die Mutter es so einrichtete, dass sie und Ruthenbeck sich gegenübersaßen und ihre Blicke manchmal verharrten, für wenige Sekunden? Was bedeutete es, wenn der General den Kuchen und den Kaffee lobte? Was bedeutete es, wenn er eine Bemerkung darüber machte, dass das Kleid der Mutter gut zu Gesicht stehe? Was geschah mit der Mutter und mit dem Patenonkel, dass sie sich in dieser Weise veränderten, wenn sie einander sahen? Und was sprachen sie miteinander, wenn sie einen Augenblick lang allein waren? Was taten sie sonst miteinander? Es kam ihm so vor, als legten sie es darauf an, keinen Verdacht zu erregen, und wirkten gerade darum verdächtig.
Doch der Vater schien nie etwas zu bemerken. Das gläserne Reich der Gefühle erkannte er aus guten Gründen nicht an. Für Frederik war nicht klar, ob dabei die Parteiarbeit eine Rolle spielte oder ob es sich um eine eigene unauslöschliche Prägung handelte, die längst vor der Schule des Stalinismus erworben worden war.
Später wurde Frederik bewusst, dass die seltenen Nachmittage, wenn Ruthenbeck zu Besuch kam, auch eine Tortur für die Mutter sein mussten - die sie gleichwohl herbeisehnte.



Die Beziehung zwischen den beiden Männern bildete den äußeren Rahmen der Besuche. Stets ging es dabei um die Partei. Ausgangspunkt waren dabei die weit zurückliegenden Erinnerungen an die Zeit des gemeinsamen Widerstands gegen die Nationalsozialisten. Die beiden Männer waren über eine lange Zeit hinweg Freunde gewesen. Sie waren mit den gleichen Idealen groß geworden und hatten den Faschismus überlebt. Das hielt selbst in den Jahren des Stalinismus. Die Freundschaft löste sich erst, als nach dem Tod des Diktators eine grundsätzlich andere Interpretation des Sozialismus möglich schien. Ruthenbeck gehörte zu denen, die es damit versuchen wollten. Thorn war strikt dagegen.
Die Besuche wurden in der Folge seltener. Doch Ruthenbeck begleitete auch weiterhin aufmerksam Frederiks Entwicklung: seine Zeit bei der Nationalen Volksarmee, wo er bald dem Generalstab zugeordnet wurde, und seine Arbeit im Ministerium für Staatssicherheit. Ruthenbeck protegierte ihn im Hintergrund. Als Frederik nach dem Einsatz am Brandenburger Tor um Versetzung nachsuchte, sorgte er dafür, dass eine relativ neutrale Erklärung gefunden wurde.

Der Ausgangspunkt für die Debatten war im Grunde beliebig. Beschlüsse des ZK waren stets allgegenwärtig ebenso wie unerfreuliche Entwicklungen in der sozialistischen Gesellschaft. Sie bedurften jedenfalls der Interpretation. Die Weltlage war zudem immer und überall bedrohlich. Man musste wachsam sein.
Zumeist war es Thorn, der begann. Er fragte mit hinterhältig-gierigem Ausdruck nach Neuigkeiten aus Berlin. (Obwohl man selbst kaum mehr als dreißig Kilometer von Berlin-Mitte im märkischen Sand steckte. Mindestens zweimal in der Woche hatte er Kontakt zu hohen Parteistellen.)
Ruthenbeck erzählte gewöhnlich von Beschlüssen, die Thorn längst kannte. Der General etwa berichtete vom Ergebnis der letzten ZK-Sitzung, auf dem offiziell eine bedingungslose Befürwortung der Entspannungspolitik beschlossen worden war. Ruthenbeck teilte anschließend seine Zufriedenheit darüber mit. Das Wettrüsten sei nicht nur volkswirtschaftlich gesehen reiner Wahnsinn.
"Unsere Verteidigungsbereitschaft", beharrte dann Thorn, "ist die alleinige Garantie dafür, dass sich der Sozialismus weiterhin ungestört entwickeln kann."
Das Gesicht des Generals verfinsterte sich: "Aber zugleich strangulieren wir uns selbst. Es ist ein hoher Preis, den wir zahlen."
"Du meinst, der Sozialismus ist preiswerter zu haben? Weißt du, Genosse, es ist ein Zeichen für Konterrevolution und allgemeinen Verfall, wenn wir beginnen, um den Preis zu feilschen, der uns der Sozialismus wert sein darf."
"Vielleicht ist es auch ein Zeichen von Reife, wenn wir nach den Kosten fragen. Warum sollte der Sozialismus nicht aus seiner Eigenart heraus die Kraft entwickeln, sich zu verteidigen? Und zwar mehr, als wir es ihm bisher zutrauten?"
"Aber das ist ja doch wohl längst erwiesen, dass der Sozialismus, wie er in der DDR praktiziert wird, sich gegen alle Anfeindungen des Kapitalismus und des Imperialismus als immun erwiesen hat. Trotzdem müssen wir wachsam sein! In jeder Gesellschaft gibt es Abweichler und Störenfriede, denen wir nicht das Feld überlassen dürfen."
"Was schadet es schon, Thorn, wenn wir in den Betrieben und Universitäten mehr Diskussionen zuließen?"
"Ja, warum nicht! Gut, gut. Lass' sie diskutieren. Aber das Ergebnis muss feststehen. Und die Partei der Arbeiterklasse muss unantastbar sein!"

 



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