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< ..Ein Dorf bei Berlin [9] ......

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"Eine private Einladung." Ruthenbeck hatte 'privat' auf eine Weise betont, dass Frederik aufhorchte. Es sollte nicht um dienstliche Belange gehen. Aber die Betonung ließ darauf schließen, dass es sich auch nicht um den privaten Rahmen handelte, in den Frederik einmal oder zweimal im Jahr per Einladung eingesetzt wurde, wie ein noch lebendiger Fisch in ein Ensemble, das an sich als Stillleben gedacht war. Erklärungen, Nachfragen schlossen sich aus. Beide wussten sich am Telefon zu verhalten.

Ein Haus am Rande eines märkischen Dorfes. Weitgehend unauffällig gelegen, dennoch schon durch seine Lage außerhalb des Ortskerns auf der Suche nach Distanz. Die meisten anderen Häuser waren direkt an der Durchgangsstraße, die sich nun als eine lange, vom anhaltenden Novemberregen gezeichnete Linie erwies, in der sich neben schlammigen Furchen Erde von den umliegenden Feldern versammelte. Es gab zwei einander ausgleichende Krümmungen innerhalb der lockeren Bebauung mit Vorgärten, Schuppen und Scheunen, sodass die holpernde Landstraße gleichsam unangetastet wieder aus dem Ortskern hervortrat. Siebzig Häuser, die hier ausharrten. Seit Generationen wurde es nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Das Haus von Ruthenbeck lag rückwärtig. Eine Auffahrt führte im großen Bogen dorthin, sofern das geschmiedete Tor den Weg frei gab. Der zugehörige Zaun war dicht und hoch genug, die Dorfjungen abzuweisen - sofern ihnen die Neugierde nicht schon von Amts wegen ausgetrieben worden war. Eine Art Villa mit Satteldach, hufeisenförmig, in einer bräunlichen Backsteinhülle, mit einer Terrasse und einem Innenhof. Gegen Einblicke schützten zudem aus Stroh geflochtene Stellwände.
Ruthenbeck war Anfang der siebziger Jahre eingezogen. Er hatte eine Ernte eingebracht, ohne gesät zu haben: Denn der Parteifunktionär, der sich die Villa bauen ließ, hatte sich überraschend in den Westen abgesetzt. Insofern standen die Bewohner hier schon gewohnheitsmäßig unter Verdacht.
Frederik klingelte in die Dunkelheit hinein. Endlich flackerten zögerlich die Außenleuchten auf. Schritte, die die Auffahrt hinunter kamen. Er hörte gleich, dass es Ruthenbeck war. Ein Stiefelschritt auch ohne Stiefel. Frederik versuchte in der Dunkelheit etwas von den Gesichtszügen zu erkennen. Glatt, knochig. Für einen so alten Mann ein schönes Gesicht. Auch die breiten Schultern waren geblieben und die hohe Statur.
"Wir sind allein, Junge. Hast du schon gegessen? Marianne hat etwas vorbereitet." Er legte den Arm um Frederiks Schulter. "Marianne freut sich schon. Du hast dich rar gemacht, seitdem du nicht mehr in Berlin bist. Ihr geht es wieder etwas besser. Du weißt ja, die Lungenentzündung. Sag ihr, dass sie gut aussieht. Mir glaubt sie das nicht. Wie geht es in Leipzig? Kommst du voran? Nichts ist erfindungsreicher als Menschen, die sich gegen die Obrigkeit auflehnen! Hab ich recht?"
Das "Hab ich recht?" hatte er sich angewöhnt, als sein Einfluss in der Partei abnahm. Seither schrieb Ruthenbeck an seiner Autobiographie.
Marianne kam Frederik aus der Küche entgegen. Sie trug ein einfaches, weit geschnittenes Kleid in ihrer Lieblingsfarbe rot. Wie stets wirkte sie älter als ihr Mann. Klein, stark, mit einem klaren, faltendurchwirkten Gesicht. Das graue Haar hatte sie helmartig aus der Stirn gebürstet. Als Frederik sie herzhaft umarmte, hörte er den leise pfeifenden Atem. Ruthenbeck litt seit zwei Jahren an Blutkrebs, Marianne hatte einen angeborenen Herzfehler. Ihre Schlafräume, kleine, eng wirkende Zimmer, lagen getrennt, um einander nicht zu stören.
Das Haus war voll gestopft mit Erinnerungen. Fotos, Trophäen, Bücher. Zumeist aus den sozialistischen Bruderländern und Staaten der sogenannten Dritten Welt. Im holzgetäfelten Wohnraum brannte Feuer im Kamin. Im Haus roch es nach Harz und Buchenholz.
"Du isst doch?" fragte Marianne. 'Ich habe Salat für dich. Der wird dir schmecken! Und Brot, wie du es in Leipzig nirgends kriegst!"
"Ich habe meine Vitamine schon", warf Ruthenbeck ein.
Frederik setzte sich. Marianne verschwand mit runden kleinen Schritten in die Küche. Ruthenbeck nutzte den Augenblick, um ihn einzuweihen. Frederik kannte diesen Wettlauf der beiden schon, bei dem es darum ging, wer die wichtigsten Informationen an ihn weitergab. Er kam sich vor wie ein junger Vogel, der mit Leckerbissen gefüttert wurde.
"Sie werden den 'Sputnik' verbieten! Es ist schon entschieden. Die Zensur wird die nächsten Nummern nicht mehr durchlassen. Weißt du, was das bedeutet?" Frederik schüttelte abwartend den Kopf. "Was willst du trinken? Bier?"
"Ein Bier wäre nicht schlecht!"
Frederik sagte es mit Seitenblick auf Marianne, die mit einer Schüssel Salat zurückgekehrt war. Ruthenbecks Mundpartie verschob sich zu einem Lächeln.
"Ich trinke ein Glas mit. Zur Gesellschaft."
"Aber nicht aus dem Kühlschrank, wenn ich bitten darf! Und erwartet nicht, dass ich es hole."
Ruthenbeck stand auf, um das Bier zu holen. Kaum war er aus der Tür, fragte Marianne: "Hat er es dir gesagt? Er denkt, dass ist so was wie eine endgültige Entscheidung. Partei und Politbüro werden sich Perestroika und Glasnost von nun an energisch widersetzen und die Entwicklung nicht mehr bloß ignorieren. Es sollen auch Filme und Bücher aus der Sowjetunion verboten werden. Ich weiß nicht, ob er Recht hat. Er spricht nicht viel. Das hat sich sehr verändert, seitdem wir nicht mehr zusammen durchs Land tingeln. Ich glaube, jetzt vertraut er lieber alles dieser Autobiographie an, an der er schreibt. Ich darf ja nicht rein sehen. Das ist schon komisch, weil ich ja annehmen muss, da auch aufzutauchen."
Frederik versuchte sich ins Essen zu retten, bestrich zwei Scheiben Vollkornbrot mit der guten Butter, die Marianne irgendwo aufgetan hatte, und stocherte kräftig in seinem Salatallerlei, das Marianne auf seinen Teller gehäuft hatte. Er aß und die beiden ließen ihn eine Weile in Ruhe. Der Salat schmeckte ungewöhnlich. Aber weil er das von Mariannes Salaten schon kannte, schaute er nicht genau, sondern schaufelte eine Gabel nach der anderen mit verschiedenen geraffelten Gemüsesorten und biss dazu von dem Brot ab. Im Frühjahr würde sie ihm wieder ihren Kräutergarten und das kleine Gewächshaus zeigen.
Frederik beantwortete zwischen ein paar Bissen die Fragen zu seiner Arbeit in Leipzig, nach seiner Einschätzung der politischen Lage, nach seinem Eindruck, wie stark sich die oppositionellen Gruppen im Land an Gorbatschow orientierten. Später saßen sie vor dem Kamin, der von einem schmiedeeisernen Jugendstilgitter eingefasst wurde. Ruthenbeck schaute ab und an sehnsüchtig hinüber zu der Pfeifensammlung auf dem Kaminsims: Aber die Zeiten waren für ihn vorbei.
"Du fragst dich, warum du hier bist?"
"Marianne wollte mir einen Salat machen...?"
Ruthenbeck und seine Frau schauten sich an und lächelten.
"Du weißt - ohne deiner Mutter etwas nehmen zu wollen -: du bist wie ein Sohn für uns. Wir haben Angst, dass du beim MfS in eine Situation gerätst, wo du und deine Kollegen vielleicht falsche Entscheidungen treffen müssen." Frederik nickte, obwohl er nicht verstand. "Es gibt eine starke Gruppe innerhalb der Partei, die Veränderungen will und daran interessiert wäre, Kontakte zu oppositionellen Gruppen zu knüpfen. Ich meine damit Gruppen, die konkrete Vorstellungen auf den Gebieten Menschenrechte, Abrüstung, Umweltschutz, Friedenserziehung und Ökonomie haben. Natürlich unter der Voraussetzung, dass die Basis ein demokratischer Sozialismus bleibt..."
"Und was soll ich dabei? Ich bin ein kleiner Hauptmann ohne besonderen Verantwortungsbereich."
"Du hast Kontakte. Du bist der einzige Offizier in dem Bereich, dem wir vertrauen können."
"Gut, gut. Aber was habt ihr damit zu tun?"
"Man glaubt..."
" - wer ist 'man'…?"
Ruthenbecks Oberkörper straffte sich. "Genossen in sehr unterschiedlichen Bereichen und auf verschiedenen Leitungsebenen. Nicht nur in Berlin, sondern in der ganzen Republik." Frederik beugte sich tiefer über seinen Teller, um seine Skepsis zu verbergen. Er kannte solche Beschreibungen. "Man glaubt, ich sei dazu geeignet, zwischen der Opposition innerhalb der SED und den Basisgruppen im Lande eine Verbindung herzustellen."
"Seid wann geht das?"
"Honecker hat nie einen Hehl daraus gemacht", sagte Marianne, "dass er Gorbatschow nicht leiden kann."
Frederik lehnte sich zurück und wischte sich den Mund ab. Wie stellte Ruthenbeck sich das vor? Unter den jüngeren Offizieren im MfS gab es viele, die unzufrieden waren. Aber sicher keinen, der seine Leute gegen das Politbüro geführt hätte.
"Was soll ich also tun?" fragte er vorsichtig. "Das hört sich ein wenig nach Putsch an. Wer schützt die Leute in den Gruppen, wenn sie in eine Sache verwickelt werden, die für sie ein paar Nummern zu groß ist?"
"Die Zeiten haben sich geändert, Frederik. Das sind nicht mehr die 50er Jahre. Es gab die Entspannungspolitik. Man kann den Leuten nicht mehr weismachen, es müsse Kalter Krieg herrschen, um den Sozialismus zu sichern. Es gibt auch im Politbüro und im ZK einander widerstrebende Interessen. Wir werden uns das zunutze machen."
"Warum tut ihr das? Woher die plötzliche Wandlung?"
Ruthenbeck und Marianne schauten sich an. Offenbar existierten mehrere Versionen einer möglichen Antwort, sodass Abstimmung nötig war.
Ruthenbeck atmete tief durch: "Nun weil wir glauben, das Richtige zu tun..."
"Das haben wir immer geglaubt! Das beantwortet die Frage des Jungen nicht!"
Ruthenbeck sah Marianne in einer Weise an, als habe er sich eigentlich Schonung erhofft: "Du weißt, dass ich mit deinem Vater oft gestritten habe, wie der Sozialismus aussehen sollte..."
Frederik nickte: "Wenn du kamst, wusste ich schon, dass es Streit geben würde. Vater hat sich trotzdem auf diese Begegnungen gefreut. Mutter übrigens auch."
Er wusste nicht, warum er das angefügt hatte. Einen Moment herrschte Schweigen. Das Buchenfeuer knisterte unwirklich laut. Bis Marianne schließlich mit einer Handbewegung, die bedeutete, dass sie das längst hatte fragen wollen, sagte: "Wie geht es deiner Mutter?"
"Gut!" sagte Frederik. "Danke."
Wenn er manchmal mit Marianne allein gewesen war, hatte er diese Frage gefürchtet: nämlich wie es seiner Mutter ging. In seinen Augen war Marianne immer eine Betrogene gewesen - selbst wenn sie es im physischen Sinne nie gewesen sein sollte.
"Nun ja!" Ruthenbeck war aufgestanden und hantierte am Kamin. Dann räusperte er sich, als habe er Rauch eingeatmet. "Jedenfalls hatte ich... hatten wir das Gefühl, dass es so nicht weitergeht. Siebzig Jahre seit der Oktoberrevolution. Das hätte Zeit genug sein sollen. Vielleicht denkst du, ich schreibe an meiner Autobiographie, um nachträglich etwas zu beschönigen... Nein, es ist…"
"Was denkst du, ist schief gelaufen?"
"Dass wir nichts aus unseren Fehlern gelernt haben."
"Warum hast du nicht früher was dagegen gesagt?"
"Nun, irgendwann habe ich das getan. Die Gespräche mit deinem Vater. Es gab diese Debatten auch im Politbüro, im Ministerium, im Zentralkomitee. Wir haben uns nicht durchsetzen können. Du darfst nicht vergessen, dass viele Genossen Prügel bezogen haben, furchtbare Prügel: zuerst vom europäischen Faschismus und dann vom Stalinismus. Da neigt man dazu, sich ein warmes Plätzchen zu suchen und da hocken zu bleiben..."
Marianne nickte Ruthenbeck jetzt zu: "Honecker saß unter den Nazis im Zuchthaus. Er hat die stalinistischen Säuberungen überstanden. Trotzdem fällt ihm nichts anderes ein, als seine Gegner ins Gefängnis zu werfen. Das ist der Widerspruch, den wir nicht auflösen konnten!"
"Aber dein Mann hat selbst im Apparat gesessen, Marianne..."
"Du darfst nicht vergessen, dass es objektive Zwänge gab. Der Kalte Krieg. Die Amerikaner. Die Westdeutschen haben uns nichts geschenkt. Und niemand gibt gern zu, dass er vielleicht einen Fehler gemacht hat. Willst du noch mehr Entschuldigungen dieser Art hören?"
Ruthenbecks Stirnadern schwollen an. Seine Augen blitzten. Marianne legte ihre Hand auf seinen Arm. Frederik wurde rot. Noch immer fühlte er für den alten Mann ein Art Respekt, in dem sich Nähe und Distanz verbanden.
"Ich glaube nur, dass die Leute in den Basisgruppen wenig Lust verspüren dürften, sich an einer wie auch immer gearteten Neuauflage von dieser Art Sozialismus zu beteiligen."
Ruthenbeck schien den Einwand erwartet zu haben: "Das wäre, historisch gesehen, unklug!"
Frederik nickte zwar, dachte aber auch, dass Leute, die seit Jahren drangsaliert wurden, auf keinen Fall mehr mit der Partei zusammenarbeiten würden. Ob das nun historisch unklug war oder nicht..
"Für deinen Onkel", sagte Marianne, "ist es einfach das Problem, einsehen zu müssen, dass wir vielleicht zu spät sind."



 



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Ein Dorf bei Berlin,
Nov. 88


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