Über den Autor

 

Über den Autor

 

 

 






In:
Autorenreader 6, Hg. vom Kultursekretariat NRW, Klartext Verlag, 1997

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



Laudatio zur Verleihung des Baldreit-Stipendiums als Stadtschreiber von Baden-Baden

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 





Laudatio anlässlich der Verleihung des Baldreit-Preises 1991

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



  1. Jochen Langer. Von Imke Wallefeld

  2. Gert Haedecke: Der Autor von 'Patrizia sagt'

  3. Jochen Langer als Stadtschreiber in Baden-Baden
    Von Dr. Dirk Teuber

 



1.

Jochen Langer

GESEHEN VON
IMKE WALLEFELD, WDR


 

"Worüber ich schreibe, ist meine Sache! Über mich natürlich! Zum Teufel, was denken die Leute, worüber ein Autor im 20. Jahrhundert schreiben kann? (...) Welche Abenteuer kann er erleben, die nicht von vornherein synthetisch wären? Was kann er sonst erleben? Na, sich natürlich! Und ist das nicht, endlich, Gott und die Welt? (...) Deshalb gehen wir über Leichen, um an einen geeigneten Stoff (also an uns) zu kommen! (...) Wir türmen sie, verletzen, beleidigen, verraten, verkaufen, am liebsten unsere Freunde!"

Diesen kleinen Wutanfall legt Jochen Langer der Hauptperson seines ersten Romans 'Patrizia sagt' in den Mund. Ein Schriftsteller schreibt als Auftragsarbeit die fiktive Biografie eines erfundenen Buchautors, mit dem ihn verbindet, dass ihre Frauen, Kinder und Hunde dieselben Namen tragen. Die hübsche Konstruktion weist in leicht satirischer Manier die übliche Zumutung zurück, mit der der Leser die biografische Wirklichkeit des Autors hinter jeder Geschichte aufspüren will. Und trotzdem bemerkt man bei der Lektüre von 'Patrizia sagt' natürlich auch die Wahrheit des wütenden Ausrufs, ein Schriftsteller könne nur über sich selbst schreiben.

Die Weiten, die Jochen Langer in seinem Roman und in seinem Erzählband 'Die Liebe am Nachmittag' erfindet, sind sehr alltägliche, irritierenderweise selbst dort, wo phantastische Umstände oder satirische Zuspitzung einzelnen Geschichten ihren besonderen Reiz verleihen. Genau, amüsant und illusionslos beschreibt er die Besonderheiten der Ehe des Schriftstellers mit Patrizia, die als Bankkauffrau das Geld verdient, während der Autor den Haushalt führt und die Kinder betreut.

Patrizia sagt nicht nur Kluges über das Leben und das Schreiben, sie ist eine dieser modernen Frauen, die ein völlig anderes Leben führen als ihre Mütter und Großmütter. Weil sie den Familienunterhalt erwirtschaftet, darf sie auch das Privileg des geregelten ausserehelichen Geschlechtsverkehrs genießen.

Wenn Jochen Langer von Liebesbegegnungen und Ehen erzählt, gewinnt er seinen Geschichten den Stoff zurück, von dem er in 'Patrizia sagt' ironisch behauptet, die Literatur habe ihn durch die sexuelle Freizügigkeit und die Liberalisierung der Abtreibung verloren. Tatsächlich beschreibt Langer Liebesgeschichten und ihr Scheitern so beiläufig und kühl, dass ihnen alles Tragische ausgetrieben scheint, obwohl so entsetzliche Dinge wie eine Abtreibung, Liebesverrat, Vergewaltigung und einmal auch der Unfalltod mehrerer Familienmitglieder die Handlung bestimmen.

In den Erzählungen treffen sich Männer und Frauen zufällig, verbringen eine Zeit miteinander und trennen sich wieder. Die Liebe vergeht unspektakulär, jeder richtet sich wieder in seinem eigenen Leben ein, wenn nicht schon von vornherein entschieden war, dass sich die Gefühle den jeweiligen Lebensentwürfen völlig unterzuordnen hatten.

"Lügnerischer Realismus" nennt der Schriftsteller in 'Patrizia sagt' seinen Stil und beschreibt damit gut auch die Absichten von Jochen Langer. Seine Geschichten zeichnen ein genaues Bild unserer Lebensverhältnisse, beschreiben die Enttäuschungen, den Pragmatismus und die Resignation im Alltag der Nach-68er-Generation, die aufgebrochen war mit einem überhöhten Glücksanspruch, der sich aus der Überzeugung herleitete, Emanzipation, Freiheit und Individualismus garantierten ein Höchstmaß an gelungener Selbstverwirklichung.

Vielleicht übertreibt Langer seine lügnerischen Erfindungen in satirischer Absicht manchmal. So hat er sich ein Paar ausgedacht, dass sich für eine Abtreibung entscheidet, weil das Baby nicht zur neu gestylten Wohnung passt, oder einen südamerikanischen Mafiaboss ersonnen, der sich in eine sehr biedere deutsche Hausfrau mit zwei Kindern und einem Reihenhaus verliebt. Diese Charaktere und ihre Alltagshandlungen sind aber so überzeugend geschildert, dass die Geschichten eine große innere Schlüssigkeit gewinnen.

"Alles ist möglich heutzutage, sodass die Verwirrung überhand nimmt. Ich überlege dann, was ich eigentlich will, beginne von vorn, indem ich Gedichte schreibe, auf Poetik achtend und auf Wirklichkeit. Je tiefer die Verwirrung, desto strenger die Formen, die ich mir auferlege." So reflektiert der Ich-Erzähler in 'Patrizia sagt' seine Arbeit, und es ist sicher nicht völlig unzulässig, dabei auch an den Gedichte schreibenden Autor Jochen Langer zu denken.

Die Wirklichkeit, der Stoff für die Literatur, ist verwirrend vielfältig, unübersichtlich und ungeordnet. Gleichzeitig erlebt der Schriftsteller wenig, ist sein Alltag in der globalisierten Medienwelt genauso erlebnisarm wie der der meisten Menschen. Es gibt keine Tragödien mehr, keine Heldentaten, keine Abenteuer. Wer schreiben will, muss mit diesem seltsamen Widerspruch fertig werden.

Jochen Langer hat nach der politischen Wende zur deutschen Einheit darüber nachgedacht, wie vorteilhaft der Wegfall von Ideologien für die schriftstellerische Arbeit sein wird und gewünscht, dass sich die deutsche Literatur wieder regionalisiert und im emphatischen Sinne provinziell wird. Heinrich Böll hat da als großes Vorbild sicher Pate gestanden. Langers Idee, seine eigene kleine Lebenswelt als Quelle für seine Arbeit zu betrachten, hat sich in seinen Erzählungen als sehr fruchtbar erwiesen. Man wartet gespannt auf weitere Geschichten aus der rheinischen Provinz.


[Imke Wallefeld ist Literaturredakteurin beim Westdeutschen Rundfunk und lebt in Köln.]

 

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2.

Gert Hädecke

Der Autor von 'Patrizia sagt'

 


 

Wir haben Anlass, stolz zu sein. Denn unter uns, genauer: hier vor mir, in der ersten Reihe, sitzt Jochen Langer, Autor des Romans "Patrizia sagt", der in der Presse, selbst im Feuilleton der großmächtig gestrengen FAZ, durchaus wohlwollend beurteilt, ja sogar ausdrücklich gelobt worden ist. Wir haben es also mit einem anerkannten Schriftsteller zu tun. "Regelmäßig", so schreibt er, "wurde ich mit Preisen, Auszeichnungen und Ehrengaben bedacht. Patrizia wurde misstrauisch. Wenn die so weitermachen, sagte sie, bleibt nichts für später. Auf ihr Drängen hin verfasste ich einen Offenen Brief, in dem ich um Schonung bat, da ich mich, so die Begründung, nicht mehr in der Lage sähe, in relativ kurzer Zeit Danksagungen von Niveau zu verfertigen."

So steht es in dem Roman "Patrizia sagt" auf Seite 92. Und deshalb, ich wiederhole, haben wir Anlass stolz zu sein. Denn für uns, für das Baldreit-Stipendium der Stadt Baden-Baden, ist der Autor offensichtlich bereit, eine Ausnahme zu machen. Sonst wäre er jetzt nicht hier. Allerdings gibt es zu der zitierten Passage, ebenfalls auf Seite 92, folgende drohende Nachschrift: "Eine zu selten benutzte Möglichkeit: Stifter, Juroren, Publikum und Medien in der Dankesrede zu beschimpfen. In tradierten Formen vorgetragen - die Beispiele reichen von antiken Invektiven bis zu den Pamphletisten - gereicht die Provokation zur Ehre".

Demnach wäre es vielleicht klüger gewesen, die Bitte um Schonung ernst zu nehmen? Schließlich wollen wir keinen Skandal. Was haben wir davon, wenn morgen in der Zeitung steht: "Jochen Langer weist Baldreit-Stipendium zurück. Verleihungsfeier endet mit Eklat. Literatur, so erklärte der Autor, sei nicht käuflich. Er denke nicht daran, sich als Vorzeigeobjekt der Wohlstandsgesellschaft in einen Käfig sperren zu lassen. Literaturförderung habe endlich andere Wege zu gehen." So oder ähnlich. Markant, schneidend, unmissverständlich.

Sollte dergleichen geschehen - die Jury müsste sich den Vorwurf gefallen lassen, leichtfertig gehandelt zu haben. Schließlich kannten wir die Gefahr. Wir hatten das Buch gelesen. Aber was hätten wir denn tun sollen? Hätten wir sagen sollen: Also gut, da ist zwar ein hochbegabter Schreiber mit einem hochbegabten Roman. Aber der Bursche scheint ein bisschen launisch, ein bisschen verwöhnt und unberechenbar. Nehmen wir lieber einen anderen, der ist zwar nicht ganz so gut, aber bei dem gehen wir auf Nummer sicher? Hätten wir das wirklich tun sollen?

Wir haben es nicht getan. Und wir haben uns dabei auf Patrizia verlassen. Patrizia, die Gefährtin des Erzählers, die Titelfigur seines Romans. Patrizia, die weltkluge, die in der Vase die Blumen und im Leben die Schritte ordnet und die, quasi von Berufs wegen, in Maßen zumindest, über einen gewissen Realitätssinn verfügt, denn sie ist Bankangestellte, stellvertretende Abteilungsleiterin sogar, im Ressort Risikofinanzierungen. Und damit wird es Zeit, dass wir endlich auf das Buch kommen, dem sie ihren Namen lieh.

Patrizia sagt: "Machs doch. Es ist ein idiotisches Thema, aber wenn die so viel zahlen: Wir könnten's gut brauchen! Am Ersten steht die Mieterhöhung an und im Herbst die Reise nach Monte Catini."

Was soll er machen? Schreiben natürlich. Was kann ein Schriftsteller sonst schon? Und worüber? "Über ein Schriftstellerleben. Idealtypisch kann es sein oder von lügnerischem Realismus. Oder beides... Nur gut muss es sein... Fünfzehn Seiten."

Nun sind fünfzehn Seiten allerdings noch lange kein Roman. Der Auftrag stammt auch nicht von einem Buchverlag, sondern "von einem etwas heruntergekommenen Magazin. Um neue Autoren anzuwerben, zahle es im Moment recht gut." Sagt Franco, der Freund und Agent des Schriftstellers, und er sagt es gleich auf der ersten Seite unten. Aber nicht etwa auf der ersten Seite von den fünfzehn der Auftragsarbeit, sondern auf der ersten von 180 Seiten des Romans "Patrizia sagt". Ob die fünfzehn Seiten für das Magazin je zustande gekommen sind, wissen wir nicht. Der Roman schildert lediglich, was der Auftrag, sie zu schreiben, im Kopf des Schriftstellers auslöst.

Aber welches Schriftstellers? Jetzt wird's knifflig. Da ist zunächst einmal der, dessen Name auf dem Titelblatt des Buches steht und der hier vor uns sitzt: Jochen Langer, Jahrgang 1953, geboren in Hameln, laut Bewerbungsunterlagen für das Baldreitstipendium verheiratet, eine Tochter. Der Roman "Patrizia sagt" ist seine erste Buchveröffentlichung. Daneben Gedichte und etwas Literaturkritik im Rundfunk und in Zeitschriften.

Und dann ist da, als nächster, der Schriftsteller im Roman, der fünfzehn Seiten über ein Schriftstellerleben schreiben soll und der über die Aufgabe in der Ich-Form nachdenkt.

Gleich das erste Wort heißt: "Ich". "Ich schneide eine Handvoll Schalotten in winzige Würfelchen..." und so weiter. Dieses Roman-Ich ist natürlich nicht mit dem wirklichen Ich des Schriftstellers Jochen Langer identisch, kann es gar nicht sein, denn dieses Roman-Ich ist zwar auch verheiratet, mit Patrizia, der stellvertretenden Leiterin der Abteilung Risikofinanzierungen, hat aber drei Kinder. Sie verdient das Geld, er kümmert sich um den Haushalt, schneidet eine Handvoll Schalotten in winzige Würfelchen und schreibt über sein Schriftstellerleben.

Sein Schriftstellerleben? Wenn es so einfach wäre. Da sind merkwürdige Sprünge im Text. Da passt manches nicht so recht zusammen. Denn dieser Schriftsteller, über den das Roman-Ich in der Ichform schreibt, ist einmal ein armer Schlucker, der froh sein muss, wenn ihm der Auftrag eines heruntergekommenen Magazins zufällt, über ein Schriftstellerleben zu schreiben; ein paar Dutzend Seiten später ist er plötzlich ein Erfolgstyp, der es sich leisten kann, Preise, Auszeichnungen und Ehrengaben abzulehnen, weil die Verfertigung von Dankesreden zu viel Zeit kostet. Der ist aber auch einmal ein Literaturfunktionär im Landesvorstand des Schriftstellerverbandes und dann wieder einer der Stillen im Lande, oder ein von der Presse beachteter Dramatiker, oder ein unbekannter Übersetzer - und immer in der Ichform.

Mit anderen Worten: Der Schriftsteller, den sich der Schriftsteller Jochen Langer ausgedacht hat, denkt sich selbst wieder verschiedene Möglichkeiten seines Schriftstellerlebens aus, die nur in seinem Kopf existieren, der nur im Kopf von Jochen Langer existiert. Und deshalb werden sie womöglich alle ein bisschen von ihm in sich haben, aber sicher nicht alle ganz mit ihm eins sein.

Das klingt schwierig, und das ist auch schwierig. Aber nicht auf die übliche dröge Art, tiefsinnig und zergrübelt.

Das malmt nicht als analytischer Zwölftonner im Treibsand der Psychologie. Das kommt leicht und behände daher, hurtig über Stock und Stein, kantapper kantapper den Berg hinunter, wendig und Haken schlagend, kreuz und quer durch ständig sich wandelnde Erzähllandschaften. Plötzlich in wildem Galopp auf Abgründe zu, du klammerst dich fest, das geht nicht gut, das geht nicht gut, dann im letzten Augenblick eine Brücke, drüber weg, die Pferde fallen zurück in rasselnden Trab, in Schritt, und gemächlich schaukelt das schmale Gefährt durch ein idyllisch blühendes Tal.

Mit anderen Worten und etwas nüchterner: Jochen Langers Roman lebt vom häufigen Wechsel des Erzähltempos und der Erzählperspektive. Der Autor nimmt probeweise verschiedene Erzählhaltungen an, so wie man vor dem Spiegel Kleider anprobiert. Und manchmal schlüpft er dabei auch in eine fremde Jacke und treibt Possen.

Oder sollte es wirklich ein Zufall sein, dass sein Roman in der Küche beginnt und immer wieder dorthin zurückkehrt? Dass der Autor sich sowohl mit den Finessen exotischer Gerichte als auch mit Großmutters schlichter Hausmannskost auskennt? Ist das nur eine Anspielung auf die geschmäcklerische Art mancher Schreiber, ihre Texte mit kulinarischen .Reminiszenzen zu würzen? Oder kann man nicht im wölkenden Küchendunst ein ganz bestimmtes, schnauzbärtiges Kaschubengesicht erkennen?

"Ich schneide eine Handvoll Schalotten in winzige Würfelchen, dünste sie in Butter glasig, schön vorsichtig, damit sie nicht braun und bitter werden, gebe eine reichliche Menge süßer Sahne hinzu, schmecke ab mit Essig und Honig, weil gesünder, und lege ein ordentliches Stück Suppenfleisch bei, das ich zuvor mit einigem Grün habe gar ziehen lassen."

So köchelt Jochen Langer seinen Roman an. Und bei Günter Grass, auf der ersten Seite vom 'Butt', heißt es: "Ich hatte die Hammelschulter mit halben Knoblauchzehen gespickt und die in Butter gedünsteten Birnen zwischen grüne gesottene Brechbohnen gebettet."

Literatur, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Aber nicht für lange. Zumindest bei Langer nicht. Der zieht nämlich die Kochjacke von Grass rasch wieder aus und probiert jetzt vor dem Spiegel, ob ihm eine dunkelgetönte Sonnenbrille steht, wie Max Frischs Gantenbein, der den Blinden spielt und sich verschiedene Erlebnisse zu seinen Erfahrungen ausdenkt, immer beginnend mit der Wendung "ich stelle mir vor...". "Ich stelle mir vor, das zweite von vier Kindern eines Medizinalprofessors zu sein"? heißt es auf Seite 9 in Langers Roman.

Da tastet sich einer an eine Geschichte heran. Und schon nach wenigen Sätzen ist es seine Geschichte, ist er hineingewachsen, obwohl es mit einemmal nicht mehr eine Gantenbeingeschichte von Frisch ist, sondern eher eine Böllgeschichte vom Generationenkonflikt der Nachkriegsjahre, von der Schuld der Väter im Dritten Reich, kaschiert hinter den restaurierten Villenfassaden unbelehrbaren Großbürgertums, aufgespürt von dünnhäutigen respektlos aufbegehrenden Söhnen, die sich so langsam für die Protestmärsche der achtundsechziger Jahre warmlaufen.

Aber als es dann so weit ist - wieder ein Haken, ein plötzliches Ausscheren in eine andere Richtung. Unser Schriftsteller, genauer: der Schriftsteller, den sich der Schriftsteller ausdenkt, den sich der Schriftsteller Jochen Langer ausgedacht hat, diese Puppe in der Puppe in der Puppe, driftet seitlich weg in die neue Innerlichkeit. Nicht vor den Wasserwerfern der Berliner Polizei treffen wir ihn wieder, sondern an der Küste von Elba, auf Selbsterfahrungstour, kostend die Wonnen des einfachen Lebens, einen Schluck Wasser aus einem Tonkrug, atmend den Geruch der Macchia, "herb und feucht zu dieser Jahreszeit, klebrig wie die Blüten der Zistrosesträucher, ein rosafarbener Duft, mit der Ahnung von stachligen Blättern im Hintergrund." Mit Handke auf dem Mont Saint Victoire.

Und zwischendurch immer wieder Patrizia, die Weltkluge, die tüchtige stellvertretende Leiterin der Abteilung Risikofinanzierungen. Patrizia, die - in Maßen zumindest - über einen gewissen Realitätssinn verfügt. "Patrizia sagt, warum schreibst du so'n Zeug? Warum schreibst du nicht, wie es wirklich ist?"

Aber wie ist es wirklich? Was ist Wirklichkeit für einen Schriftsteller? Auch für einen ausgedachten Schriftsteller, der sich ein Schriftstellerleben in allen Brechungen seiner Existenz ausdenkt? Wirklichkeit ist die tägliche Angst am Morgen vor dem leeren Papier.

Wirklichkeit sind die kleinen Tricks, mit denen man diese Leere überwindet. Wirklichkeit ist das Bewusstsein, auf eine vergleichsweise lächerliche Art seine Existenz zu fristen, während die Menschen ringsum handfesteren Beschäftigungen nachgehen, Häuser bauen, Kartoffeln pflanzen oder Autos reparieren. Sie alle haben ihren Platz im Leben, tun etwas Nützliches, gehen aus und kehren abends wieder heim, mit dem Anspruch auf rechtschaffene Müdigkeit und ein geregeltes Einkommen. Auch Patrizia, die tagsüber Risiken finanziert. Wie, wenn sie sich plötzlich eines anderen besänne, eines anderen Mannes zum Beispiel, der ihr ein anderes Leben böte? Was würde dann aus ihm und seiner Literatur?

Wirklichkeit für einen Schriftsteller - das sind also vor allem Sorgen und Zweifel, Zweifel an sich selbst und den eigenen Einfällen, an der Tragfähigkeit eines Satzes, der Konstruktion eines Romans. Wirklichkeit für einen Schriftsteller ist aber auch das kaum beschreibbare Glücksgefühl, wenn eine Formulierung gelungen ist, oder wenn sich aus dem Klopftakt der Schreibmaschine ein Versrhythmus löst, wenn sich eine Geschichte schlüssig entwickelt, und wenn einem bei der zweiten Korrektur endlich das Wort einfällt, nach dem man lange gesucht hat, weil es das einzig passende an dieser Stelle ist, oder, ganz einfach, wenn Patrizia sagt: "Ob du's glaubst oder nicht, ich hab' schon immer mit 'nem Schriftsteller leben wollen! Schon als soo kleines Mädchen."

Ein Schriftsteller ist ein ständiger Grenzgänger, hin und her pendelnd zwischen Schreibangst und Äußerungszwang, zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, Selbstüberschätzung und Selbstverachtung. Und auch seine Umwelt sieht ihn in Extremen: als bemitleidenswerten Sozialfall oder Teilhaber geheimnisvoller Mächte und manchmal als beides in einem. Patrizias Vater etwa, ein Landwirt. Er hätte lieber einen Doktor als Schwiegersohn, glaubt aber, dass der Schriftstellerehemann seiner Tochter mit seinen Gedichten Unglück herbeischreiben kann. Der Dichter als Magier, den die Familie durchfüttert.

Patrizia sagt: "Es wird übersehen, dass Schriftsteller verdauen müssen wie andere auch. Allenfalls leiden sie häufiger daran."

Damit sind wir wieder auf dem Boden. Ein Schriftsteller ist ein Mensch mit einer gewissen berufsbedingten Empfindlichkeit. Und was ist sein Beruf? Der Umgang mit Sprache, das dauernde Umsetzen von Gedanken, Eindrücken und Erlebnissen in Wörter. Selbst am Morgen nach der ersten Nacht mit Patrizia hockt der Schriftsteller neben dem Bett und macht Notizen. Mitten in der Hausarbeit legt er das Küchenmesser beiseite, greift zum Bleistift und schreibt etwas auf. Kein Wort darf verloren gehen. Alle Zettel werden in Schuhkartons gesammelt. Und noch im Badezimmer, während er Patrizia den Rücken einseift, spricht der Schriftsteller nur von Literatur, in diesem Fall von Übersetzungen aus dem Cymrischen.

Ein Rezensent hat diesen Begriff, als er Jochen Langers Roman besprach, in Anführungszeichen gesetzt, so, als traue er der Sache nicht so recht. Ich wusste zwar, dass es eine cymrische Kultur gibt. Aber ich gestehe, dass ich beim Lesen auch stutzte, wegen der Details, der Auflistung von poetologischem Fachvokabular und von Namen: cynghanned, Engyln, yn garnau und die Regeln des cywydd, die Dafydd ap Gwilym einführte, 1325-1388. Das ist toll erfunden! dachte ich. Eine herrliche Parodie auf Arno Schmidts akribische Anglomanie. Aber vorsichtshalber griff ich zum Lexikon und fand alles wieder, auch T. Gwym Jones (1871-1949). Nur an der Rückeindeutschung seiner Faustübersetzung habe ich noch Zweifel. Dafür sollte die Stiftung Volkswagenwerk tatsächlich Geld übrig haben?

Übrigens, Patrizia sagt: "Ach, sagt sie, habe ich dir erzählt, was beim Tischtennis passiert ist?" - "Die Beziehungen zwischen EDV und Risikofinanzierung sind gespannt, weil der Kroh mit einem Schmetterball das Uhrglas von Dr. Lehmann zertrümmert hat." Das ist ihre Art, sich gegen die Verstheorie im Cymrischen zu wehren. Literatur und Leben.

Literatur und Leben? In einem früheren Stadium wollte der Schriftsteller, den sich der Schriftsteller ausdenkt, den sich Jochen Langer ausgedacht hat, die Puppe in der Puppe in der Puppe, in einem früheren Stadium also wollte dieser Schriftsteller die Grenze zwischen Literatur und Leben noch durch demokratische Vermittlungsformen überwinden.

Mit Ulf Besgen, dem Lyriker und Hörspielmacher, gründete er ACTIONLIT, gemeinsam mieteten sie eine Werbewand und beschrieben die 12 Quadratmeter täglich mit einem frischen Gedicht. Sie arbeiteten mit Schulklassen, planten Gedichte auf Plastiktüten in Millionenauflage und eine Anzeigenkampagne Rent a Dichter. Und wieder dachte ich beim Lesen: das ist toll erfunden. Eine herrliche Parodie auf Horst Bingels missionarischen Aktionismus Ende der sechziger Jahre im Frankfurter Forum. Aber dann präsentierte sich Jochen Langer der Baldreit-Jury. Und auf die Frage, wie er sich seine Arbeit vorstellen könne in der Stadt, sprach er von einer Plakatwand mit Gedichten, von der Arbeit mit Schulklassen und erwähnte den Slogan 'Rent a Dichter'.

Literatur und Leben. Die Übergänge sind fließend, und nichts ist so, wie man dächte, es sei. Wie gesagt, dieser Jochen Langer ist ein bisschen unberechenbar, trotz all seiner Begabung. Trotz? Vielleicht wegen. Und er ist trickreich, wie der Igel im Märchen. Immer, wenn der Hase am Ende der Furche ankommt, atemlos, ist der Igel schon da. Oder seine Frau, die ihm ähnlich sieht. Und immer, wenn der Leser am Ende eines Abschnitts ankommt, ist Jochen Langer schon da. Oder der Schriftsteller, den er sich ausgedacht hat und der ihm ähnlich sieht. So sehr ähnlich, dass ein paar Hasen, pardon, ein paar Kritiker darauf hereingefallen sind. Die Geschichte von dem Achtundsechzigerstudenten, der auf der Flucht nach Innen auf die Insel Elba gerät, das ist Langers eigene Geschichte, behaupten sie. Dabei hätten sie nur nachrechnen müssen. 1968 war Langer, Jahrgang 53, 15 Jahre alt. Schon möglich, dass er später einmal mit dem Auto auf Elba war, sehr wahrscheinlich sogar.

Aber was soll's? Es bringt nichts, wenn man sich als Leser wie ein Grenzpolizist verhält und den Blick kontrollierend hin und hergeben lässt zwischen Pass und Passinhaber, zwischen Literatur und Leben. Die Wechselbeziehungen sind komplizierter, als sich ein Grenzpolizist träumen lässt."Madame Bovary, c'est moi!", sagte Flaubert. Madame Bovary, das bin ich. Und er sagte es mit Recht, obwohl die Angaben in seinem Pass dem zu widersprechen schienen.

Madame Bovary, c'est moi. Jochen Langer zitiert diesen bitteren Satz in seinem Roman. Und er zitiert ihn mit Recht, obwohl... Obwohl was? Obwohl er auf Anhieb schlecht in den Kontext zu passen scheint. Denn der kommt leicht und behände daher, hurtig über Stock und Stein, wendig und Haken schlagend. Kreuz und quer durch ständig sich wandelnde Literaturlandschaften.

Ein Roman, der vom häufigen Wechsel des Erzähltempos und der Erzählperspektive lebt, der von allem möglichen handelt, vom guten Essen, von der Liebe und vom Leben, dem Leben in Städten und auf dem Land, im Norden und Süden, in Freudenhäusern und Villen im Tessin, von einem Banküberfall und von Kinobesuchen, vor allem aber immer wieder - satirisch und parodistisch - vom Literaturbetrieb. Ein Schriftsteller denkt sich einen Schriftsteller aus, der über das Schriftstellerleben schreibt. "Idealtypisch kann es sein oder von lügnerischem Realismus. Oder beides. Nur gut muss es sein." Es ist beides, und es ist mehr als das. Und gut ist es auch.

Es ist ein Buch über die Möglichkeiten des Erzählens, über das, was sich Sprache abgewinnen lässt, wenn man ganz auf sie baut. Das allerdings kostet einen hohen Preis.

"Du faselst! sagt Patrizia. Und sei nicht so verdammt großkotzig. Das rächt sich. Mach lieber ein Ende."

Die Stimme des Lebens. Also gut. Machen wir Schluss. Im Roman folgt auf Patrizias Ermahnung zwar noch ein großes Finale, die letzten Dinge betreffend. Ich begnüge mich damit, dem Autor Jochen Langer zu gratulieren. Zu seinem Buch und zum Baldreit-Stipendium. Der Stadt Baden-Baden gratuliere ich zu ihrem Stipendiaten. Und Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für Ihre Geduld.

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3.

Jochen Langer als Stadtschreiber in Baden-Baden

Von Dr. Dirk Teuber

 


 

Jochen Langer wurde für das Baldreit-Stipendium 1990 nominiert. Sein Roman "Patrizia sagt" berichtet über das Leben eines Schriftstellers mit Familie. Hier hatte Langer nicht nur ein originelles Erzähltalent unter Beweis gestellt, sondern zugleich im Erzählen die Weise eines schriftstellerischen Zurweltseins thematisiert, mit allen Zweifeln, Tiefen und Höhenflügen der Imagination, die stets in der alltäglichen, der banalen Wirklichkeit Rückhalt wie Maßstab findet. Zugleich ein Schriftstellerleben in diesen achtziger Jahren, nahezu am Ende dieses Jahrhunderts und Jahrtausends.

Und zugleich ein poetologisches Programm, das künstlerische Strategien darlegt, wie wir sie in den letzten Monaten erleben konnten. Hier ist also jemand, der meint, was er schreibt. Wir können also nicht sagen, wir hätten es nicht gewusst.

Der Preis zum Baldreit-Stipendium würdigt die Werke, die in der Zeit des Stipendiums entstanden sind, wie die künstlerischen Aktivitäten, mit denen Jochen Langer an die Öffentlichkeit getreten ist. Mithin ist diese Verleihung kein Automatismus, vielmehr geht der Vorschlag von einem der Fachjuroren im Zusammenwirken mit dem Stipendiaten an die Jury, die dann berät und über den Preis befindet, unabhängig davon, ob wir das Werk als im moralischen Sinne angemessen, geschmacklos oder dem Ruf von Baden-Baden abträglich fanden. Gewürdigt wird nicht das Wohlverhalten des Stipendiaten, sondern einzig die künstlerische Leistung in diesem Jahr. Und die ist zweifelsohne beachtlich in ihrer Eindringlichkeit wie in ihrer Wirksamkeit für die Diskussion um diese Stadt.

Siebzehn Texte sind in diesem Jahr von Jochen Langer publiziert worden an der städtischen Litfasssäule in der Langen Straße. Texte von unterschiedlichem ästhetischen Impetus, Lyrik wie Prosa, wenn diese Gattungsbegriffe da überhaupt weiterhelfen. Jochen Langer hat darüber hinaus Lesungen veranstaltet, in Begegnungen mit Schulklassen und literarischen Sprechstunden über seine Arbeit berichtet und die Diskussion um Literatur in Baden-Baden belebt. Nicht zu vergessen ist sein persönliches Engagement für dieses Stipendium - ein Thesenpapier mit den verschiedensten Anregungen hat zur Verbesserung des Klimas zwischen der Stadt und den Stipendiaten beigetragen.

Erfreulich ist, in Jochen Langer einen Stipendiaten zu haben, der sich in das Leben dieser Stadt eingemischt hat, oder besser: der diese Stadt als Folie für eine Vielzahl von Erzählungen genutzt hat, die die Lebensverhältnisse ebenso kritisch wie genau thematisieren.

Ich fühle mich nicht befugt, hier in einer Tour de Force den Stellenwert von Jochen Langer in der zeitgenössischen deutschen Literaturszene zu bestimmen. Ich möchte allerdings ein paar Beobachtungen darlegen, die mir in diesem vergangenen Jahr nicht nur das Werk von Jochen Langer nahegebracht, sondern vor allem Einblicke in eine literarische Werkstatt ermöglicht haben.

Geht man von der veröffentlichten Meinung in der hiesigen Zeitung aus, so ist Jochen Langer zweifelsohne der Stipendiat, der die Gemüter am meisten bewegt hat. Literarischer Höhepunkt dieses Jahres war die Erzählung "Die Große Woche" - Waffen- und Drogengeschäfte, Prostitution, dies alles ist eher marginal, vielmehr eingebunden in eine Liebesgeschichte, eine Liebesgeschichte zwischen einem südamerikanischen Drogenbaron, Inhaber und Vorstandsvorsitzender, wenn man so will, einer weltweit operierenden Unternehmensgruppe, und einer badischen Hausfrau, verwitwet, mit Kindern und dem Sinn fürs Praktische, Pragmatische ausgestattet.

Literarischer Höhepunkt deshalb, weil mit der Glosse im Badischen Tagblatt, die in der Stadtbibliothek und der Volkshochschule kostenlos ausliegenden Manuskripte unversehens vergriffen waren. Was war geschehen? Es gab eine Reihe von Leserbriefen, eine Anfrage im Gemeinderat. Unvermittelt war das Baldreit-Stipendium in der Diskussion, oder zumindest sein Stipendiat. Die Stellungnahmen werden den aufmerksamen Leser, wie den Beobachter dieser Stadt verwundern.

Denn stellen wir uns vor, da geht einer durch diese Stadt und schaut zu, wie es denn hier so ist. Wie sind diese Menschen, die in einer Kleinstadt wohnen, die seit Jahrhunderten ein Ziel der Sehnsucht der Reichen und Schönen, auch der weniger Schönen und weniger Betuchten, auch der Kultivierten und Kunstbeflissenen ist, wobei das eine das andere nicht ausschließen soll, ein Bad, das Bad schlechthin, wie ist dieses Gewordensein erlebt? Wie verhält sich die Frau des Bäckers in dieser Stadt heute mit seiner großen literarisch-musikalischen Tradition im 19. Jahrhundert. Wie verhält sich ihr Lebensgefühl zur Kultur der Gegenwart, aber nicht nur der Kultur, sondern eben auch zu dieser Alltäglichkeit, die die Zeitungen, teils besorgt, teils sensationell aufgemacht, füllen. Wo berührt diese Stadt die Welt, die sie zugunsten des Kurgastes (oder ihres Rufs, den sie aus eigener Sicht in der Welt genießt) ausgrenzen möchte?

Sehen wir die Diskussion um Langers Literatur vom Ende des Stipendiums her. Diese Stadt ist für ihn zu allererst Menschen, einzelne Begegnungen, persönliche wie anonyme Begegnungen, die ihm, dem Fremden, in der Kulisse eines in Deutschland einzigartigen landschaftlichen wie architektonischen Ambientes dieses Lebensgefühl nahegebracht haben. Diese Menschen sind benannt. Der letzte Text auf der Litfasssäule reiht Namen aneinander, ergänzt um einzelne persönliche, durchweg freundlich aufmerksame Bemerkungen. Überschrieben ist dieser Text mit dem Wort Lieben. Die Konzentration auf diese Menschen bietet zugleich den Schlüssel für das Verständnis seiner literarischen Strategie, sich dem Erlebnis des Menschen in ihrer Umgebung zu widmen, nicht ohne die eigene Kraft der Imagination aufzugeben, die Haltung des lebensvollen, erlebnisbereiten und denkfähigen Voyeurs.

Zweifelsohne ist Jochen Langer mit einer bemerkenswerten Beobachtungsgabe, einem präzisen Sprachvermögen und einer humorvollen Neigung zur Groteske ausgestattet, Rüstzeug für einen erlebnisintensiven Erzähler, der weder die dramatisch brisante Disposition im Text scheut, noch die Satire um der bloßen Provokation willen einsetzt.

Vielleicht bedarf es für manchen innerstädtischen Rezensenten doch gelegentlich des Hinweises, dass die Texte vielleicht etwas genauer gelesen werden müssten, um sie auch wenigstens halbwegs angemessen würdigen zu können. Eine Gegenlektüre von Horst Krügers Grünem Salon sei hier empfohlen, der, einiges von dem benennt, was man Jochen Langer vorhält, immerhin schon 1967 - vor fast 25 Jahren also geschrieben. Sollte sich denn gar nichts geändert haben? Verdrehen lässt sich's leicht, das Verstehen kommt dabei nicht selten etwas zu kurz. Denn, um wiederum auf jene inkriminierte Geschichte zurückzukommen, sie zeigt, dass auch Baden-Baden durchaus in dieser Welt steht oder zumindest stehen kann.

Dies war, wenn man so will, Höhepunkt und zugleich Scheitelpunkt dessen, was man öffentliche literarische Diskussion nennen mag. Bedauerlich ist das Niveau, bedauerlich, dass sich diese Diskussion an Begriffen wie "Huren", wie "Pferdepisse" entzündete, insgesamt vier Worte innerhalb einer Erzählung von 25 DIN A 4 Seiten, dass diese Diskussion sich nicht beispielsweise an den lyrischen Text "Was es immer geben wird" entzünden konnte, der als Nr. 10 im Juni 1991 an der Litfasssäule zu lesen war. Das nächste Mal vielleicht wird man auch eine Lesung in der Volkshochschule oder in der Stadtbibliothek anbieten, und die Bäder- und Kurverwaltung wird sicher wieder ein Plätzchen für Langers Texte im 'Haus des Kurgastes' finden. Dieses Mal ergaben sich keine gescheiten Termine und einige logistische Probleme oder sagen wir mal so: ich will das so sehen zugunsten von Baden-Baden.

Zweifelsohne, und das hat Jochen Langer von Anfang an versprochen, versteht er sich als ein engagierter Schriftsteller, der das Alltägliche in seiner grotesken Normalität zu durchdringen weiß. Seinen Geschichten bietet Baden-Baden in seiner seltsamen Mischung zwischen Kleinstadt und Weltbad ein spannungsreiches Panorama, das mit der Unbefangenheit des Fremden angeschaut wird und aus der Kenntnis einheimischer Charaktere, Gepflogenheiten, Ressentiments dargestellt, Lebensbedingungen enthüllt, die zu lesen oft trotz oder auch wegen der genauen satirischen Überdehnung, dem ein oder anderen nicht nur Vergnügen bereiten, und eben darum sind diese Erzählungen auch nicht geschrieben.

Vielleicht ist angesichts postmoderner Beliebigkeitsfluchten hier doch noch ein bisschen von dem zu spüren, was die Moderne der Aufklärung verdankt. Vielleicht ist hier in dem Bewusstsein von Avantgarde wenigstens ein Entwurf zur Kritik zu finden, an den Lebensbedingungen in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen, unabhängig von einer politischen Position. Und muss denn erst ein Leserbrief von Renate Daub darauf aufmerksam machen, dass man diese Geschichte sicher mit mehr Vergnügen gelesen hätte, hätte sie in einer anderen Stadt gespielt?

Jochen Langers literarisch-handwerkliches Rüstzeug erweist sich als ausgesprochen reich, das gilt nicht nur für die unterschiedlichsten behandelten Sujets, die alle unter dem Thema der Liebe zwischen Menschen subsumiert werden. Liebe im umfassenden Begriff des Wortes als ein befangener Austausch von Beziehungen, befangen in dem Sinne, dass Langer Figuren, auf behutsame Weise skizziert, stets in ihren Wünschen, ihren Geschichten verhalten sind, sich die Imagination leisten, aber nie im ganz eigentlichen Sinne verzweifeln. Langer ist kein Schriftsteller der tragischen Existenz. Allen seinen Gestalten gewinnt er Normalität ab, so abstrus sie auch erscheinen mag, vermittelt Verständnis für die Selbstverständlichkeiten in ihren jeweiligen Situationen, so surreal sich auch im Einzelnen seine Bilder entwickeln. Die Verhältnisse, die Wünsche und Hoffnungen sind halt so, stets schwingt ein sehr positiver Fatalismus mit, mal hilflos, mal kritisch aggressiv, nie ohne Kultiviertheit.

In der sprachlichen Prägnanz, die ihre Angemessenheit hier in bestürzender Offenheit, dort in delikater Sinnlichkeit, dann wieder in feinsinniger Diskretion unter Beweis stellt. Hier die körperliche Selbstliebe als ein lustvoll-hilfloser Akt politischer Stellungnahme aus der Sicht des einsamen Fernsehzuschauers vor dem, die Medien überwältigenden nationalen Rausch der deutschen Vereinigung, oder die Imagination der Liebe, die aus der unvermuteten zufälligen Begegnung um eine Skulptur vor der Staatlichen Kunsthalle erwächst, eine Skulptur von John Chamberlain, die nicht nur eine entschieden körperliche Präsenz hat, sondern auch aus dem Widerspruch spröder Bleche und deren leichter fast impressionistischer Verformung lebt. Die Liebe zwischen Behinderten kann zu einem Thema werden, auch wenn hier der Tod unvermittelt die Wahrnehmung erst möglich macht, aber auch das hat seine gelassene Normalität.

Prüft man einmal, wie behutsam, sanft, sinnlich und verständnisvoll er mit diesen menschlichen Begegnungen umgeht, dann stellt man eine wohlausgewogene, die jeweilige Situation prägnant wie lakonisch angemessen fassende Sprache fest, eine Sprache, die Leichtigkeit wie Schärfe in einfacher, reiner Klarheit darbietet. Bereits in seinem Roman "Patrizia sagt" ist neben dem ausgesprochen musikalisch-rhythmisch ausgewogenen Sprachgestus eine freundlich skeptische Haltung gegenüber der Welt wie sich selbst offenbar.

Geht man seinen Personen nach, so sind sie in Verfolgen ihrer ureigensten Interessen stets ambivalent, doch mit großer Sympathie und menschlichem Verständnis gezeichnet. Das dabei die Liebe im Vordergrund steht, ist nicht verwunderlich, gibt es doch das große Ziel, dem Langer auch in Baden-Baden sich weiter angenähert hat.

Die hier entstandenen Geschichten sind Teile eines seit langem verfolgten Romanprojekts, das in zwei Jahren vollendet sein soll: in eine Rahmenhandlung, angelehnt an die Geschichten aus "Tausend und einer Nacht", in der Langer die Liebe eines Mannes zu einer Frau schildert, die nichts von ihm wissen will, werden etwa einhundert Liebesgeschichten eingebunden sein. Diesen Roman nun gilt es literarisch zu formen, "den Text also inhaltlich/logisch und formal/ästhetisch zu bearbeiten, mit dem Ziel, eine klar und rhythmisch strukturierte Prosa zu erhalten." So Jochen Langer in einer Aufforderung an seine Leser, eine Geschichte zu vollenden, die im Mai 1991 lediglich in ihrer Exposition veröffentlicht wurde.

Der Roman in zwei Jahren, bis dahin die Familie, auch Hörspiele, Lesungen, vielleicht ein Filmdrehbuch, vielleicht entwickelt aus 'Die Große Woche'. Noch einmal will sich Jochen Langer ein solches Stipendium nicht leisten. Angesichts dieses Arbeitspensums verständlich.

Beeindruckend ist für mich die Weite der Führung des Lesers in den Texten, die in sich schlüssige Zusammenführung der Beobachtungen, die oftmals eben doch auch ein gerüttelt Maß an Selbstkritik verraten, Skepsis gegenüber den Eitelkeiten und scheinbaren Notwendigkeiten des eigenen Gewerbes, wie dem Kulturbetrieb, wenn man an die erste Erzählung "Ankunft im Baldreit" denkt.

Es waren die intensiven Gespräche mit Jochen Langer in den literarischen Sprechstunden, den Spaziergängen und abendlichen Sitzungen in der Baldreitwohnung wie bei uns zu Hause, die mich in diesem Jahr erstmals mit der Literatur als einem Handwerk unmittelbar in Berührung gebracht haben. In diesen Diskussionen schien mir gelegentlich etwas von dem auf, was ich vielleicht noch am ehesten mit Baden-Baden verbunden habe: die Tradition der literarischen Salons des 19. Jahrhunderts. Dass dazu Einsichten in die bundesrepublikanische Wirklichkeit und ihre mentalen Realitäten wie die Kenntnis der Literaturgeschichte gehören, stand in den Diskussionen ebenso außer Frage wie die Gegenwart unserer Kinder.

Wenn ich zu Beginn Jochen Langer und Rudolf Herz (Anm.: den nachfolgenden Stipendiaten) in gewisser Weise als wahlverwandt bezeichnet habe, so ist das, was die Juryentscheidung betrifft, eher zufällig und nicht intendiert. So unterschiedlich die beiden Werkstrategien sich auch darstellen, zweifelsfrei wird die Diskussion um zeitgenössische Kultur auch in diesem Jahr, ausgehend vom Baldreit-Stipendium in Baden-Baden wichtige Impulse erhalten. (...)

Lassen sie mich bitte zum Schluss noch einen Abschnitt aus dem Thesenpapier von Jochen Langer zitieren, dass er zur Funktion des Baldreit-Stipendiums in dieser Stadt formuliert hat.

"Baden-Baden sollte für seine Anstrengungen keine spezifische Form von Dankbarkeit erwarten. Dankbarkeit ist kein Kriterium für Kunst. Die aber, Kunst, Auseinandersetzung mit der Stadt und ihrer Gesellschaft bis ins Mark, die sollten Sie erhoffen! Und haben Sie Geduld! Kunst braucht Freiräume, und findet sie diese nicht in Baden-Baden, geht sie anderswohin - oder bleibt fort. Allerdings: wenn man ihr Freiräume gibt, wird sie gleich weitere verlangen. Oder sich nehmen, weil sie muss. Denn engagierte Kunst, wie ich sie wünsche für diese Stadt, kann letztlich nicht wollen, dass Politik und Gesellschaft mit ihr einverstanden wären: sie hätte vermutlich etwas falsch gemacht. Also sollte sie das 'Brot' nehmen, das man ihr reicht, und die Hand, die sie liebevoll streicheln will: beißen!" (Jochen Langer, Baldreit-Stipendium und Kulturpolitik)

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