Bekassinen

 

[© Eine Aufnahme des amerikanischen Fotografen Bill Schmoker (http://www.schmoker.org/BirdPics)]

 

 

 

 

 

 

[Eine Leseprobe aus der Erzählung 'Bekassinen' gibt es hier:]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[Diese Frau war ich.]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[Nach einiger Zeit ergab es sich, dass wir miteinander schliefen.]

 

 

Paris war zwar lausig kalt, aber überwiegend mit einem blauen Himmel gesegnet. Ich habe die Stadt nach vielen Jahren wieder gesehen und schon im Vorfeld wurde mir wieder bewusst, dass sie mich auch literarisch beschäftigt hat: in der längeren Erzählung Bekassinen (die im Band 'Die Liebe am Nachmittag' enthalten ist).

Es geht um zwei junge Frauen, deren 'Roadmovie' im Paris der 80er Jahre, in einer Wohnung nahe des Place de Vosges beginnt. Während des Fluges nach Paris kam mir der Gedanke, eine Fortsetzung zu schreiben, die 20 Jahre später spielt, in der die beiden Frauen zufällig wieder aufeinander treffen - jetzt aber mit Partnern und Familie, arriviert und überaus angespannt, was über die gemeinsamen Erlebnisse dieser Zeit bekannt werden könnte.

Insofern spielte es für mich auch eine Rolle, die Schauplätze wieder aufzusuchen, die vor 20 Jahren eine Rolle spielten: vor allem natürlich der Louvre mit Caravaggios 'Wahrsagerin', der Place du Tertre, der Place des Vosges, aber auch der Friedhof Montparnasse. Im Grunde war mir, als müsste ich all diese Örtlichkeiten bereithalten können, sofern sich die beiden Frauen, Svea und die Ich-Erzählerin, entschlössen, sie nach 20 Jahren noch einmal aufzusuchen...

 


 

Bekassinen


Heute vertrage ich die Luft von Paris nicht mehr. Nach wenigen Tagen muss ich in Gegenden, wo man wieder frei atmen kann. Damals musste ich bleiben. Ich studierte Architektur und Kunstgeschichte und sammelte Stoff für meine Abschlussarbeit, die von der Stadtplanung im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts handeln sollte.

Manchmal werde ich noch gefragt, warum ich die Arbeit nicht fertig gestellt habe. Mutter machte mir deshalb heftige Vorwürfe. Vater setzte für eine Weile die monatliche Überweisung außer Kraft: Damit ich es mir, wie er in seiner kühlen Art mitteilte, in Ruhe überlegen könne.

In Paris wohnte ich bei einem französischen Geschäftsfreund von Vater. In den Sommermonaten lebte er mit seiner Familie im Süden, und es war ihm angenehm, wenn die Wohnung in dieser Zeit nicht leer stand. Die Concierge wusste von meiner Ankunft und verschaffte mir Zutritt. Sie gab mir eine Codekarte für das elektronisch gesicherte Schloss und einen verschlossenen Umschlag, der die Geheimnummer enthielt. Die Wohnung nahm den zweiten Stock des Hôtels aus dem 17. Jahrhundert ein, das im Herzen des Marais, unweit des Place de Vosges, in einer Seitenstraße lag. Eingangshalle und Treppenhaus waren mit Marmor ausgeschlagen. Die Luft dort empfing mich angenehm kühl.

Ich betrat die Zimmer und fand sie in einem fast vollständigen Rechteck um den Innenhof angelegt. Meist hielt ich mich in der Küche auf und arbeitete am Küchentisch, blätterte in Bildbänden und Monografien, die ich mir besorgt hatte, und schrieb meine Hefte voll mit Anmerkungen. Anders als die eleganten Empire-Möbel, mit denen dir übrigen Räume ausgestattet waren, erinnerte mich das blank gescheuerte Holz des Tisches an den Hof meines Großvaters, auf dem ich meine Kindheit verbracht hatte.

Ich schlief nicht in dem Zimmer, das für mich vorbereitet war, sondern auf einem der Sofas in dem saalartigen Wohnraum, wo sich meine Atemzüge verloren und mich das Alleinsein nicht gleich bedrückte. Manchmal stand ich nachts auf, machte Feuer im Kamin und stöberte in der Bibliothek, deren Leder- und Leinenbände bis zur Decke reichten. Der Schlüssel zum Weinkeller fehlte (der leere Platz am Bett war mir gleich aufgefallen), aber im Vorratsraum neben der Küche gab es einen Weinkühlschrank. Dort lagerten einige Dutzend Flaschen, und ich öffnete, was mir in die Hände fiel.
Tagsüber hielt ich mich in der Sorbonne auf und, bis auf die Montage, an denen das Museum geschlossen blieb, in einer Abteilung des Louvre, die wissenschaftlicher Arbeit vorbehalten war. Einmal hatte ich Lust, mich einfach mit dem Strom der Besucher treiben zu lassen, und so war es unvermeidlich, den Saal zu betreten, in dem das bekannteste Bild Leonardos ausgestellt ist: Mona Lisa.

Ich sah das millionenfach verbreitete Bild zum ersten Mal aus der Nähe, ohne dass es mich weiter beeindruckte. Dann aber, im Weitergehen, machte ich, seltsam angezogen, vor einem Caravaggio halt: Es war 'Die Wahrsagerin', ein Jugendwerk des Malers: eine Gegenüberstellung von Zigeunerin und jungem Adligen, die, obwohl in jeder Hinsicht verschieden, einander auf schicksalhafte Weise verbunden wirkten.

Diese Frau war ich. Die Zigeunerin war mir nicht nur ähnlich, sondern in ihren Zügen, in ihrer ganzen Art ich. Von da an rührte ich die Aufzeichnungen und Notizen meiner wissenschaftlichen Arbeit nicht mehr an, sondern kümmerte mich nur noch um das Bild.


Ich hatte in einem der Warenhäuser in der Nähe der Opéra einen Falthocker mit grobem Stoffbezug gekauft, den ich mitnahm, um die Stunden vor dem Gemälde angenehmer zu verbringen. Die Museumsaufseher zeigten sich anfangs erstaunt über mein Verhalten. Sie waren es zwar gewöhnt, dass Kunststudentinnen oder -Studenten mit einem Skizzenblock erschienen. Aber eine junge Frau, die Tag für Tag kam und sich in einigem Abstand vor einem der Bilder auf einen dreibeinigen Hocker niederließ, die Beine übereinander schlug, den Rock zurechtzupfte und nur ab und zu Notizen in ein schmales Heftchen machte: das war neu.

Als ich am vierten Tag den Salle des Etats betrat, die Aufseher, die Dienst versahen, durch ein leichtes Senken des Kopfes gegrüßt, dann meinen allmorgendlichen ersten Gang zur Zigeunerin unternommen hatte und eben dabei war, den Hocker aufzustellen, trat, wie ich vermute auf ein verabredetes Zeichen hin, ein Angestellter des Louvre auf mich zu, sprach mich auf französisch und, als ich nicht gleich reagierte, in akzentbeschwertem Englisch an und bat um eine Unterredung.

Ich folgte ihm eine Weile durch weniger belebte Gänge. Der Mann war groß, über einsneunzig, und auf eine schlotternde Art schlank. Trotz des heißen Augusttages trug er einen dunklen Anzug, Krawatte und ein bis zum Hals geschlossenes Hemd. Wie er so einen Schritt vor mir her ging, kam er mir lächerlich vor.

Wir betraten ein kleines Büro, wo er mir Kaffee und eine Zigarette anbot. Dann fragte er gleich, warum ich mich jeden Tag so lange vor dem Bild aufhalte.

Ich wies ihn auf die Ähnlichkeit mit der Zigeunerin hin. Er hatte sie bemerkt, empfand sie aber nicht als ungewöhnlich. Dergleichen kommt vor, sagte er. Die Kunstgeschichte hält schließlich eine Fülle von Bildern bereit, und wir haben hier im Louvre jeden Tag Tausende von Besuchern, die auf sie treffen.

Er lächelte mir, ein wenig herablassend, zu und schien damit sagen zu wollen, dass ich nicht die erste war, der so etwas passierte, dass ich aber, wenn ich unbedingt wollte, mit meinen Beobachtungen fortfahren sollte.

Zum Abschied gab er mir seine knochige Hand.
Wenn Sie Erfolg haben bei Ihren Nachforschungen, sagte er, lassen Sie's mich wissen?

Ihm war bei aller routinierten Höflichkeit eine Spur Melancholie in die Stimme gerutscht, so als wollte er mir schonend beibringen, dass sich die Sache am Ende vermutlich in nichts auflösen würde.

Ich kehrte also zur Zigeunerin zurück, und die Museumsaufseher behandelten mich seitdem fast wie ihresgleichen. Sie verstanden mich zwar nicht, aber sie ließen es mich auch nicht spüren, wenn ich mich in ihren Augen lächerlich machte.

(…)

Ein paar Straßen weiter wohnte seit kurzer Zeit Svea, eine junge Schwedin, die für ein Jahr als Sprachstudentin nach Paris gezogen war. Ich lernte sie beim Einkaufen kennen, als sie nicht gleich verstand, was eine Verkäuferin von ihr wollte. Ich übersetzte für sie, und so kamen wir ins Gespräch. Sie war so, wie man sich eine Schwedin vorstellte: hübsch, blond, mit einem langen Zopf, der bei ihr gar nicht kindlich wirkte, und lebhaften blauen Augen, die mich neugierig anschauten. Wir verständigten uns in Englisch, das sie leidlich sprach.

Hin und wieder begegneten wir uns auf der Straße. Schließlich verabredeten wir uns, um gemeinsam ins Kino zu gehen oder in ein Konzert. Einmal lud ich sie zu mir zum Essen ein. Seltsamerweise gefielen ihr die Wohnung und deren Einrichtung. Jedenfalls behauptete sie das, obwohl ich erzählt hatte, wem sie gehörte.

Wir mochten uns. Sie war jünger als ich, und ihre wortkarge Zuneigung lenkte mich für eine Weile selbst von der Zigeunerin ab. Ihre Familie lebte am Polarkreis, an der Grenze zu Norwegen, wo ihr Vater ein Sägewerk besaß.

Wie ist es da? Wollte ich einmal von ihr wissen.
Sie antwortete: Wie hier.
Warum bist du dann weggegangen?
Sie zuckte mit den Achseln: Ich weiß nicht, sagte sie.
Ein anderes Mal fragte ich, ob sie schon den Louvre gesehen habe.
Nein.
Ich lud sie ein, mit mir zu hinzugehen. Doch sie schien nicht sehr interessiert. Sie erzählte aber, dass an diesem Tag der Unterricht ausgefallen sei: die Lehrer waren unterwegs als Wahlhelfer für die Sozialisten.

An einem Abend in der Woche besuchte sie ein kleines Bistro, in dessen Hinterzimmer die Versammlung einer politischen Studentenvereinigung stattfand. Einmal begleitete ich sie. Obwohl ich mehr mitbekam als Svea, verstand ich nicht, um was es eigentlich ging. Jedenfalls diskutierte man heftig und lautstark, ohne sich durch mich stören zu lassen.

Nachher wollte sich ein Mann, der mir gegenübergesessen hatte, mit mir verabreden.
Ich weiß nicht, sagte ich, was Svea dazu sagt.
Die lachte, umarmte mich, wie sie es zuvor noch nie getan hatte, und rief dem Kerl zu: Sie ist meine Freundin! Siehst du das nicht? Sie geht nur mit mir!

Nach einiger Zeit ergab es sich, dass wir miteinander schliefen. Es war aufregend, für uns beide. In solchen Nächten lag ich lange wach, aufgewühlt darüber, was ich empfunden hatte und was da in mir vorging.

(...)

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mosaik