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< ..93 - 62 - 89 [4] ....../ / / .Reichstage. Roman



 

'93-62-89' - es war mir nicht im Geringsten peinlich, Bel anzufassen. Aber es war mir irgendwie unangenehm, Bel in diese Maße gefasst zu sehen. Dabei konnte sie selbst längst damit umgehen: "Gibt es etwas", sagte sie, "dass selbstverständlicher ist in dieser Branche, dass unmittelbarer Auskunft gibt über die Verhältnisse, als die Ziffern, die Konfektionsgröße und Industrienorm betreffen?"

Bel stand in ihrem Ankleidezimmer, sie war nackt bis auf einen schwarzen Slip und hielt ein Kostüm prüfend in die Höhe. Dann wählte sie eine passende Bluse aus. Bel war erstaunlich locker und gelöst. Wir hatten uns geliebt, es war schön gewesen. Während ich noch im Bett lag und rauchte, redete sie drauflos. Ich glaube, sie brauchte das. Noch vor ein paar Jahren, sagte sie, sei sie ein gut bezahltes Model gewesen. Daher der selbstverständliche Umgang mit den Maßen.
Ich stützte mich auf den linken Arm, um ihr zuzuschauen: "Was heißt das? Du bist sehr schön, Bel, soviel weiß ich ja - aber was habe ich mir darunter vorzustellen?"
Bel versammelte die Kleidungsstücke über den Arm, um sie mit ins Bad zu nehmen. "Laufsteg. Runway. Catwalk. Das heißt nicht viel und meist ist es eher banal. Figur und so - das ist gut und schön, aber was mich angeht war der Schlüsselreiz für die Branche nicht so sehr mein Körper, sondern mein Haar!"
"Lass mich dir helfen! Ich helfe dir, es zu waschen!" bat ich und sprang aus dem Bett.
"Nein, mein Lieber! Heute nicht! Du machst das zu hingebungsvoll und ich bin spät dran.

Es war schwarz, von kräftiger Struktur und gebärdete sich überaus störrisch. Ich liebte es, die Fülle aus der Stirn zu streifen wie zu einem Helm, der bis über die Schultern reichte. Warmes Wasser, Bel schloss die Augen, die Kraft der Spiralfedern schien für kurze Zeit gebändigt. Im nassen Zustand maß sie eins sechsundsiebzig. Dazu kamen sechzig Kilo Idealgewicht, verteilt auf die heilige Dreieinigkeit.

Eine Art Archiv. Bilderbücher. Darunter auch Fotos ihrer letzten Saison als Model, als ein dicker kleiner Mann an ihrer Seite ging, dessen Namen ich wieder vergessen habe. Er hatte seinen Arm um ihre Taille gelegt. Die beiden schritten auf diese Weise eng nebeneinander über den Laufsteg.
"Ich höre, du willst Mode machen, meine kleine Bel?", raunte er ihr beiläufig zu. Der Satz fing auf Französisch an, aber seine steil abfallende Melodie endete in einem biederen lombardischen Akzent. Bel schaute weiter geradeaus und zeigte unbeirrt ein strahlendes Lächeln. "Na, dann mach mal schön!" fügte er noch hinzu.
Bel hatte en Satz noch lange Zeit im Ohr. Beide waren für das Abschlussdefilée ganz in Schwarz erschienen. Bel in einem wundervollen Seidenkleid, hoch geschlossen bis zum Hals, mit einer langen Schleppe wie für eine Braut.
Mit Blick auf das Foto sagte ich: "Eine Braut, die nach der Hochzeit zum Friedhof geht!"
Bel erwiderte: "Ja, ich weiß. Er wusste das auch. Es ist ein Spiel, verstehst du? Ein Spiel."

Der kleine Dicke, distinguiert mit einem Zweireiher, dem goldene Knöpfe Form gaben. Der Look des Großbürgertums. Für Bel war es Mode, Spiel. Der gepflegte Vollbart hier, die nackten Arme dort zum Kontrast: der ältere, dicke, kleine Mann und die junge, schlanke, ihn überragende Frau.

"Was soll's denn sein, Kleines?" fragte er sie Backstage noch einmal: "Willst du nur ein paar Sachen schneidern oder gleich ein neues Lebensgefühl?"

Das war nicht einmal ironisch gemeint. Einige der Umstehenden, eine Art Groupies, hatten mitgehört, sie waren "special guests der großen Vagabondage" (wie Bel es nannte). Entzückt schauten sie dem ungleichen Paar entgegen: 'Lebensgefühl'. Das Wort schien tauglich, auch die tiefsten Risse zu glätten.
Es gab noch ein weiteres: 'Identität', das sich in der Szene wie ein Irrlicht gebärdete.


"Solche Erwartungen galt es zu erfüllen", sagte Bel. "Ich habe tausend Mal gedacht: Das schaffe ich nicht! Das schaffe ich nicht! - Und doch, irgendwann kehrte mein Selbstvertrauen zurück und ich sagte mir: Warum eigentlich nicht, zum Teufel? Denn die Frage kann nur sein: Welches Lebensgefühl? Welche Identität? Und welche von meinen Sachen passen dazu?"



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Köln, Frühsommer 89


Bisherige Kapitel mit Bel:

Die Jüdin / Zeigen, wer ich bin / Position! /

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