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..Epilog: Das Mädchen mit der
Anne-Frank-Frisur [0] ......
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.Reichstage. Roman
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Er
war vielleicht acht oder neun Jahre alt gewesen. Das Mädchen
ging in seine Schule und ein Stück weit hatten sie einen
gemeinsamen Heimweg, aber bisher hatten sie noch nie ein privates
Wort gewechselt. Nur über Schule oder so. Auch das Mädchen
mochte acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Er erinnerte sich
an eine füllige Anne-Frank-Frisur und an ein kurzes Sommerkleidchen,
aus dem braun gebrannte Arme und Beine schauten.
Tom hatte damals sehr kurze Haare, einen Mecki-Schnitt, durch
den die Kopfhaut schimmerte, und trug kurze Hosen. An diesem
Nachmittag marschierte er mit hoch gezogenen Schultern zu dem
Haus, wo sie wohnte. Mit Armen, die sorglos in Hüfthöhe
schlenkerten, staksige, weit ausgreifende Cowboyschritte unter
sich. Aber sein Herz schlug wild, und er wusste nicht, wie er
es abstellen konnte.
Sie holte ihn am Gartentor ab. Tom folgte ihr zögerlich
durch den großen Garten, in dem es viele Obstbäume
gab. Das Mädchen musste ihm immer wieder zureden. Dann
lächelte sie, sagte: "Na, komm schon!" und er
ging wieder ein paar Schritte.
Als sie endlich am Haus waren, packte sie sein rechtes Handgelenk
und zog ihn hinter sich her die Stufen zum Keller hinab. Durch
die Lichtschächte fiel ein streifiges Sonnenlicht. Hatte
er Angst? Nein. Aber ihm war nicht ganz wohl bei der Sache.
Links sah er eine Waschküche, ein Raum mit aufgestapelten
Tischen, Stühlen und allerlei Gerümpel rechts. Voran
die Eisentür des Heizungskellers, daneben der Zugang zur
Garage. Aber die war jetzt leer, das wusste er. Sie waren allein.
Das Mädchen hatte gesagt, dass sie ihm etwas zeigen wollte.
Er hatte gefragt: "Was denn?" und so getan, als wäre
er nicht neugierig. Doch das hatte sie nicht gelten lassen.
Erst als sie in der Waschküche waren, ließ sie ihn
los, beobachtete ihn aber. Dabei wollte er gar nicht mehr weg.
An der Wand gegenüber stand ein hohes Eisenregal, gefüllt
mit Einmachgläsern. In Kopfhöhe, gleich vor ihm, war
eine Reihe mit Mirabellen. Einige Früchte waren aufgeplatzt.
Er sah sie wie durch ein Vergrößerungsglas: das gelbe
Fruchtfleisch, das hervor quoll. Gerade als er sich wieder umdrehen
wollte, drückte das Mädchen ihre Lippen auf seine.
Es war so überraschend, dass er nichts dagegen tun konnte.
Doch was er dabei fühlte, war nicht kalt oder nass, wie
es die Mirabellen sein mussten. Die Lippen des Mädchens
waren weich und warm und irgendwie vertraut. Und dennoch riss
er sich los, lief durch die Kellerräume, die Treppenstufen
hoch und durch den Garten davon. Er hörte noch, wie sie
ihm zweimal hinterher rief: "Du musst mir helfen!"
Aber er wusste nicht, was sie wollte. Tom lief bis er atemlos
war und seine Seiten weh taten. Da hielt er keuchend an. Er
stand tief vorgebeugt, stützte schwer atmend die Hände
auf die Oberschenkel und schaute sich misstrauisch in der ruhigen
Vorortstraße um. Kein Mensch war zu sehen. Die Gärten
waren leer.
Nach einer Weile sagte
er sich, dass er doof war! Wie ein kleines Kind hatte er sich
verhalten! Sie hatte ihm etwas zeigen wollen und er war weggelaufen.
Tom entschloss sich umzukehren. Er wollte mutig sein und sie
fragen, bei was er ihr helfen sollte.
Am Gartentor rief er ihren Namen. Aber sie antwortete nicht.
Vielleicht war sie im Haus, oder sie war noch im Keller. Die
Kellertür stand immer noch offen. Er konnte es von der
Treppe aus sehen. Also rief er wieder nach ihr, erhielt aber
keine Antwort. Vielleicht versteckte sie sich. Vielleicht wollte
sie ihn erschrecken. Langsam ging er die Stufen hinunter. Unten
war dasselbe streifige, jetzt etwas unheimlich wirkende Licht.
Er rief ihren Namen. Er schaute sich vorsichtig um. Wo konnte
sie sein?
Als er in den Raum mit den Mirabellen kam, sah er sie auf dem
Boden liegen. Ihr Kleidchen war hoch gerutscht. Er rief ihren
Namen. Aber sie rührte sich nicht. Er konnte ihr Gesicht
nicht sehen. Alles war von den dunklen Haaren verdeckt. Auch
noch, als er zu ihr hin ging und sie leicht an der Schulter
berührte, während er wieder ihren Namen rief. Ungeduldiger
jetzt. Er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Vielleicht
wollte sie ihn necken. Als er sie fest an der Schulter zog,
fiel ihr Kopf zurück und schlug hart auf den Betonboden.
Er sah er ihr Gesicht und ihre Augen. Sie sah ihn mit leeren
starren Augen an. An ihrem Hals waren rote Flecken.
Tom erschrak furchtbar und stolperte in Richtung Treppe. In
diesem Moment hörte er, dass die Haustür aufgeschlossen
wurde und eine Frauenstimme rief: "Hallo, Liebes!"
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Eine
Kleinstadt im Rheinland, Mitte der 60er Jahre
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Bisherige Kapitel mit Tom
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