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Ein deutsches Lustspiel
Hotel
Solitüd in Berlin, Reichstagsnähe,
1. Teil: Halle des Hotels 'Solitüd', gegen Mittag
Karl kommt von draußen. Er trägt einen Anorak; in der Hand hält er eine Aktentasche. Er geht staunend durch die Halle. Rechts und links im Hintergrund Treppenaufgänge. Rechts der Empfang, links ein Aufenthaltsbereich, wo er sich schließlich niederlässt. Karl packt ein belegtes Brot und eine Thermoskanne mit Kaffee aus und beginnt zu essen und zu trinken. Auf dem Tisch liegen Journale und Tageszeitungen, in denen er blättert.
Nur Einheit, Einheit, Einheit! Als ob es nichts Wichtigeres gäbe! Und diese Massen! Alles drängt sich um Reichstag und Brandenburger Tor! Wie die Lemminge. Keine Ahnung, wie man so was in den Griff bekäme, im Falle eines Falles. Muss einem schummrig werden, als fast ausgelerntem Mitarbeiter der Staatssicherheit! Dabei ist alles friedlich: Die strahlen sich gegenseitig an wie die Blöden vor Glück! Und überall, wo ein Fleckchen frei ist, bauen sich Reporter auf, mit Kameras und Mikros. Hunderte! Was sag ich: Tausende! Und wofür der Aufwand? Für ein paar Schlagzeilen, die sich zum Verwechseln ähneln werden! Das nenn ich Materialverschwendung! Hätte es in der DDR nicht gegeben! Da hätte ein Reporter für sämtliche Schlagzeilen genügt! Dabei könnte auch mal einer von diesen Schmierfinken fragen, wie's unsereiner geht! Nicht mir! Aber meinen Chef, zum Beispiel, dem armen Hauptmann Bronnen! Den diese Einheit totgeschlagen hat, noch bevor sie richtig da ist! Edvard Bronnen betritt von draußen die Hotelhalle und schaut sich suchend um. Er trägt eine einfache Wetterjacke. Na ja, eigentlich lebt er noch! Aber wenn einem die ganze Existenz vernichtet wird und die Frau mit dem Erzfeind aus dem Westen auf und davon geht und die eigene Tochter einem nicht mehr ins Gesicht schaut, dann ist man doch so gut wie totgeschlagen! Nicht wahr? Was bleibt denn da? Na ja, immerhin ich: Der gute Karl! Der beste Mitarbeiter in Diensten des Ministeriums für Staatssicherheit, den er je hatte! Hat er selbst gesagt! Wurde auch in der Kaderakte festgehalten. Und der Hauptmann ist sonst gewiss nicht so schnell mit einem Lob dabei! Aber nun ist mit dem Lob des Hauptmanns kein Blumenpott mehr zu gewinnen. Und das mit der Kaderakte bringt nur Ärger. Was verstehen kann, wer will! Trotzdem bin ich bei ihm geblieben. Obwohl wir alle längst unseren Marschbefehl bekommen haben. Aber ich habe mir gesagt: Karl, ins Ungewisse kommst du noch früh genug! Und wenn der Hauptmann Bronnen meint, sein Schreibtisch sei noch nicht aufgeräumt, dann hilfst du ihm dabei. So kommt man von Leipzig ins feine Berliner Hotel Solitüd! Vom Empfang kommt der Portier heran, bleibt am Tisch stehen und mustert Karl. Ja? PORTIER: Darf ich fragen, ob Sie Gast des Hauses sind? KARL: Nein. PORTIER: Wieso soll ich nicht fragen dürfen? KARL: Weil ich nicht Gast des Hauses bin! Aber Sie haben sicher Notbetten? PORTIER: Notbetten? Gewiss nicht, mein Herr. Wir sind complêt, seit bekannt ist, dass heute der große Tag sein wird. KARL: Was für ein großer Tag? Etwa ein Fußballspiel? Wer? Dynamo gegen Karl Marx-Stadt? PORTIER: Sie machen Scherze, mein Herr! Heute ist die Vereinigungsnacht. Aber das weiß doch jeder - oder? KARL: Nun, ich komme aus Leipzig. Da kommt nicht jeder her! Vereinigungsnacht? Hört sich nach Hochzeit an und nach zwei Eheleuten, die freudig und frei und mit genau gleichen Rechten und Pflichten beschließen, es miteinander zu versuchen. Mit anderen Worten: eine Liebesheirat! PORTIER: So wird es wohl gewesen sein. Ich stamme aus Sizilien, und die deutschen Verhältnisse sind kompliziert. Wir haben nur den Papst und die Mafia. Ihr habt die Franzosen, die Engländer, die Russen und die Amerikaner, die Polen und die Tschechoslowaken... Und nicht zu vergessen: euch habt ihr gleich zweifach! Ach ja... Kritischer Blick des Portiers. Die Juden habt ihr nicht mehr! Gestisches Eingeständnis von Karl. Dann sind Sie nicht gekommen, um an der Vereinigungsnacht teilzunehmen? KARL: Jetzt wo Sie's sagen! PORTIER: Aber Gast des Hauses sind Sie nicht? KARL: Meines Wissens nicht. Doch fällt mir ein, dass ich jemanden treffen soll, der unter Umständen Gast des Hauses ist. PORTIER: Wie sollte dieser Gast heißen? Ich könnte ihn für Sie ausrufen lassen. KARL: Danke. Aber die Dame könnte sich erschrecken. PORTIER: Eine Dame? Und sie ist Gast in diesem Haus? KARL: Schließen Sie aus, dass eine Dame Gast in ihrem Haus ist? PORTIER: Genug gescherzt: Ich nehme an, dass Sie hier nicht hingehören und angesichts der besonderen Umstände und weil wir Platz für Gäste aus aller Welt benötigen, muss ich Sie bitten, draußen... Karl hat in seiner Tasche mit Aktenregistratur gekramt, einen Hefter hervorgezogen und darin geblättert. KARL: Sie sind Rio Orsini? PORTIER: Das ist mein Name! Woher... ah, Sie haben das Namensschildchen auf dem Empfangstisch gesehen. KARL: Sie sind 46 Jahre alt, und Ihre Familie stammt aus Ragusa auf Sizilien. Im zarten Alter von zehn kamen sie nach Deutschland, nach Westdeutschland, natürlich. PORTIER: Kennen wir uns? Ich erinnere mich nicht. KARL: Nennen Sie mich nur Karl - das wird reichen. PORTIER: Karl? Was für ein Karl? KARL: Mit vierzehn haben Sie als Laufbursche in einem Stundenhotel angefangen, im Frankfurter Bahnhofsviertel. Sie haben sich hochgearbeitet. Lange Lehrzeit: Sprachen, Umgangsformen, Schliff. Na ja. Hier in Berlin sind Sie seit vier Jahren. Fühlen Sie sich wohl? Ach ja, bevor ich es vergesse: Sie sind verheiratet und haben zwei Kinder - und eine Affäre mit Anna, der portugiesischen Servicebiene von der dritten Etage! Beiseite. Das heute ist nicht seine erste Vereinigungsnacht! PORTIER: Was steht da noch? Ist das das Jüngste Gericht? Wer sind Sie? Gott? KARL: Habe ich Sie erschreckt? PORTIER: Tastet sich ab. Wenn sie jetzt noch sagen, dass meine Mutter nicht meine Mutter und alles meine Schuld ist, glaube ich Ihnen das. Wer sind Sie? KARL: Ein Businessman, natürlich! Aber nennen Sie mich nur Karl - das wird reichen. Die Dame, mit der ich verabredet bin, hat Zimmer 324. Das ist doch hier die Empfangshalle? PORTIER: Wenn Sie es sagen, Karl! Geht. KARL: Meine Ausbildung mag zwar lückenhaft sein, aber immerhin weiß ich, wie wichtig es für operative Vorgänge ist, sich vorzubereiten! Nachfrage, Anfrage. Verbindungen und Beziehungen. Glückliche Fügung. Ach, das schien einmal meine Welt zu werden! Herr über ungezählte Biografien, die man in den Dossiers so wunderhübsch anlegen und nach Belieben verschieben konnte. Und nun? Was bleibt? Was wird mit uns? Gut! Wir müssen lernen! Oder müssen wir uns anpassen? Was gilt? Zuerst lernen? Oder zunächst anpassen? Anpassen - lernen? Lernen - anpassen? Wie auch immer: wird schon klappen! Bin ja quasi noch am Lernen. Da setze ich das Lernen einfach in die andere Richtung fort. Er steckt den Hefter wieder weg. Edvard Bronnen kommt heran, Karl will aufstehen, aber Bronnen gibt ihm Zeichen, sitzen zu bleiben. Er setzt sich auch selbst. Hauptmann, da haben wir in 40 Jahren einen Palast der Republik hingestellt, fürs Volk, wohlgemerkt, und diese Herren haben Paläste an jeder Ecke? Da muss doch ein Fehler sein im System! Doch in welchem? EDVARD: Vielleicht hast du Recht, Karl, und wir stehen wirklich auf verlorenem Posten - aber dann... Er scheint zu überlegen. KARL: ... wollen wir in einwandfreier Haltung untergehen! War es das, was Sie sagen wollten, Hauptmann? Haben Sie das Gewimmel gesehen? So viele Deutsche! Mein Gott! Das hier kommt mir vor wie das letzte ruhige Fleckchen in ganz Berlin. Er packt Thermosflasche und Essensreste in die Aktentasche zurück. EDVARD: Ich habe viele heitere Gesichter da draußen gesehen! Familien mit Großvätern und Tanten, Kinder auf den Schultern, die schwarz-rot-goldne Fähnchen schwenkten. Fast ein bisschen wie früher! KARL: Ohne Hammer und Sichel, Hauptmann! EDVARD: Ja, ohne Hammer und Sichel. Weisst du, Karl: zwischen all diesen heiteren Menschen bin herumgegangen und hab nach Jutta Ausschau gehalten. Ich hab nach ihrem vertrauten lieben Gesicht gesucht und gehofft, dass sie plötzlich in der Masse auftaucht und zu mir kommt. Und alles wäre wieder gut gewesen! Verstehst du, Karl: Alles wäre wieder gut gewesen für mich! Aber nichts ist passiert. Nichts, was hätte sein sollen. Weisst du, wie schwer es ist, ein freundliches Kinderlächeln nicht zu erwidern? So verdammt schwer! Ich hab mich fremd gefühlt. Hast du erfahren können, welches Zimmer der Westdeutsche und meine Frau haben? KARL: Jawohl! Er greift eine Akte aus seiner Tasche, blättert und nimmt Haltung an. Der Bürger der Bundesrepublik, Michael Kürten, hat das Zimmer 324: ein Doppelzimmer mit Bad und Balkon. Es ist jedoch nicht von ihm selbst, sondern von einem Günther Burg gebucht worden, wohnhaft in 50936 Hürth. Das ist im Rheinland. EDVARD: Wann? KARL: Vor fast genau einem Monat. EDVARD: Vor einem Monat? So lange? Burg? Der Name? Burg? KARL: Die Frau, mit der Sie sich treffen wollen, trägt den selben Namen. EDVARD: Annette Burg! Sie ist auch aus dem Rheinland. Was hat das zu bedeuten, Karl? KARL: Keine Ahnung, Hauptmann! Von einem Pagen hab ich gehört, dass das Hotel seit Wochen ausgebucht ist. Bis ins letzte Notbett! EDVARD: Heißt das, die beiden haben nur eine Art Notbett? Das passte nicht schlecht! KARL: Wenn Sie das so nennen wollen, Hauptmann. Aber eins für 450 die Nacht. Keine Ostmark, wohlgemerkt. Und ohne Frühstück. Also, ich habe so ein Zimmer noch nicht gesehen, geschweige gehabt! Nicht mal für 450 DDR-Mark! Die neuen Herren nehmen sich alles, Hauptmann. So weit man überhaupt nur schauen kann: die neuen Herren nehmen sich alles! EDVARD: Weil sie es bezahlen können: Das ist der Gang der Dinge in der Welt - wir haben nicht dran geglaubt. Ich will mir das Zimmer ansehen, Karl. KARL: Jawohl, Hauptmann! Ich habe uns einen bequemen Zugang verschafft! Er zieht einen Nachschlüssel aus der Jackentasche. EDVARD: Wo hast du den her? KARL: Unsere operativen Abteilungen funktionieren ganz gut, jetzt wo es vorbei ist. EDVARD: Du weisst, dass diese Annette Burg die Freundin des Westdeutschen war? KARL: Was wollen Sie von ihr, Hauptmann? EDVARD: Schließlich betrifft es meine Frau und ihren Freund. KARL: Beiseite, begleitet von einer Geste des Fickens: Kooperation mit dem Klassenfeind. Da wollen sie beide zu alten Zuständen zurück! Das kann ich verstehen! Zu Edvard: Was wollen Sie mit denen tun, Hauptmann? Am Vereinigungstag ist alles auf den Beinen. Da heißt es unauffällig sein. Ich meine, Sie tun nichts Unüberlegtes, nicht wahr? Ihre Frau ist weg. Da ist nichts mehr zu ändern. Oder? EDVARD: Das wird der Lauf der Dinge zeigen. Ich bin auf alles vorbereitet. KARL: Ich seh die ausgebeulte Jacke, Hauptmann. Das kann in diesen Zeiten für unsereiner kein prall gefülltes Portmonee sein. War es nicht so, dass wir unsere Dienstwaffen abgeben mussten? EDVARD: Das war so, Karl. KARL: Dann täusche ich mich, Hauptmann? EDVARD: Was wäre eine einzelne Waffe gegen das System? KARL: Oh, wenn Sie mich fragen: Es hat immer Mittel und Wege gegeben! EDVARD: Die selten genutzt wurden! Von dir, Karl, erwarte ich operative Unterstützung! So zuverlässig wie... KARL: ... früher! Allzeit bereit, Hauptmann! Er hält den Schlüssel noch einmal hoch. Wenn die wichtigen Dinge passieren, darf die Staatssicherheit nicht fehlen! Beiseite, im Abgehen: Ich seh's, Hauptmann, als meine Abschlussprüfung an, wenn's recht ist! Wenn er noch immer so verrückt ist, dass er glaubt, diese Frau könnte ihn wieder lieben lernen, dann will ich sie ihm beschaffen. Selbst wenn der Hauptmann nicht ahnt, wie tief das Tal ist, wo er durch muss. In dem Loch könnte man ganz Leipzig versenken! Der Kapitalismus wurde uns geschenkt, was sag ich: nachgeworfen. Aber die Liebe einer Frau zurückzugewinnen? Oh je! EDVARD: Für sich. Ich weiß gar nicht, ob ich das will : bei allem dabei sein, was jetzt kommt. Aber wer operative Helfer hat, darf nicht fragen, wenn sie sich nützlich machen. Der Apparat will beschäftigt sein. Wenn die Vereinigung vollzogen ist, trennen sich unsere Wege, Karl. Ich darf dir nichts mehr beibringen, und ich kann nicht mehr verantworten, dich bei mir zu haben. Er zieht vorsichtig die Waffe aus dem Halfter. Was ist das heute schon: die Frau und das Land weg, die Existenz, die Familie? Guter Karl, wir müssen abdanken! Ich habe auf dem Weg zum Reichstag zu viele fröhliche Gesichter gesehen. Da war mein letzter Einsatz in der Hauptstadt ganz anders: Im Sommer 87: die 750-Jahr-Feier. Die Imperialisten hatten ein Rockkonzert organisiert. Ausgerechnet am Reichstag! Bei uns drängten sich Hunderte im Schatten der Mauer, nur um ein paar Töne mitzukriegen. Wir mussten sie wegjagen: Jugendliche, Kindergesichter. Wir hatten den Kampfauftrag, sie zu schützen: vor zersetzenden, den antifaschistischen Schutzwall überquerenden Tönen. Die wollten sich aber gar nicht schützen lassen. Wir mussten sie wegprügeln. Ein paar Prinzipien hatten sich gestört gefühlt, und wir mussten prügeln... Danach war mir schon klar, dass das nicht der wahre Sozialismus sein konnte, der sich durch ein Rockkonzert bedroht sah. Aber ich habe den Absprung nicht geschafft. "Du musst dein Leben ändern!" aber das große Wort hätte bedeutet, alles, alles über den Haufen zu werfen, und ich wusste einfach nicht, wo ich anfangen sollte. Da draußen strahlen einen die Leute an wie zu Weihnachten oder zu Neujahr. Alles scheint neu und rein. Die verdammte deutsche Geschichte und die Deutschen, die ganze Nation scheint mit einem Mal wieder neu und rein! Und ich? Wo soll ich hin? Für einen wie mich ist kein Platz. Man erwartet, dass ich mich in Luft auflöse, wie man es von der DDR verlangt hat und vom Ministerium. Da bleibt nicht mehr viel Zeit, um noch ein Zeichen zu geben. Er steckt die Waffe zurück und folgt Karl.
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