Das Golfprojekt


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Golfgeschichten



Twosome


Ein Mann und eine Frau laufen sich auf dem Golfplatz über den Weg. Er ist Amerikaner, sie Deutsche. Beide sind von Beruf Piloten, auf unterschiedlichen Routen, mit unterschiedlichen Arbeitszeiten. Eine gemeinsame Golfrunde scheint nur möglich, indem die beiden - zeitlich versetzt - Twosome spielen: sie schlagen einen Ball, markieren ihn, beschreiben, wo der andere bei Gelegenheit weiterspielen muss. Nebenbei hinterlassen sich die beiden private Zeilen, Nachrichten, Briefe, die Auskunft geben, über ihr Leben, ihre Herkunft, ihre Träume...



1 [26. März 2001]


Liebe Amélie,


ich kann mir das Datum gut merken: eine Woche vor Beginn des Sommerflugplans. Ich nehme an, bei euch ist es dieser Tage nicht viel anders. Dass ich dir den Ball so weit ins Rough gehauen habe, sorry! Spricht nicht gerade für meinen Drive. Bin aber sehr gespannt, was du draus machst. Ich bin aus unserer kurzen Begegnung am Samstag mit der Hoffnung gegangen, dass wir bald Gelegenheit zu mehr haben. Aber wenn ich meinen Dienstplan ansehe … mein Crewplaner hat mir dreimal wöchentlich die Ostküste verpasst! Ich fliege dann am nächsten Tag zurück. Das heißt, zusammen spielen wäre nur Montag möglich. Das ist doch wirklich kurios: da überbrücken zwei Piloten jedes Jahr Hunderttausende von Meilen, können aber nicht mal ein paar gemeinsame Stündchen beim Golf verbringen! Ist das nicht ein Skandal, der zum Himmel schreit?!!!

Auf baldige, bessere Zeiten

Johnny


PS: Andy an der Rezeption weiß Bescheid. Wie du siehst, habe ich eine Kamera mitgenommen und ein paar Bilder gemacht. Außerdem habe ich die Scorekarte (mit der Courseübersicht) beigelegt und die Balllage eingezeichnet. Drop einfach so gut du kannst.



2 [28. März 2001]

Lieber Johnny,

angesichts unserer sehr kurzen Begegnung ist es wirklich eine abenteuerliche Idee. Twosome! Noch dazu über eine so ungewisse Zeitspanne. Verrückt! habe ich gedacht - und mich gefreut, dass ich so was mitmache. Gut gemacht, altes Mädchen! (Ich war richtig stolz auf mich.) Früher, als Anfängerin, habe ich vor allem vermisst, dass man kaum Muße hat, mal inne zu halten. Du weißt schon: Kontakt halten zum vorderen Flight, Distanz halten zum nachfolgenden. Meine Illusionen von einem relaxten Spiel (siehe all die Senioren, die sich doch wohl deshalb massenweise ansiedeln) waren schnell dahin. Deshalb finde ich deine Idee von einem Spiel über viele Wochen super! Was freilich Zeiten und Räume angeht, so fliege ich den Sommer über Teneriffa und Helsinki. Extremer geht's kaum noch! (Ich hasse meinen Crewplaner!) Freier Tag ist in aller Regel Mittwoch. Da sehe ich nach wie vor rabenschwarz für eine reale gemeinsame Runde …


Nichtsdestotrotz bin ich im Wasserhindernis gelandet. Ich wollte mal wieder zuviel! Das musst du für unser starkes Zweierteam ausbügeln! Heute Abend, kurz bevor ich schlafen gehe, werde ich mir vorstellen, wie du das machst. Du merkst: ich habe ziemlich viel getrunken. Einen leichten, spritzigen Riesling aus meiner Heimat, der Rheinpfalz. Lecker und süffig. Du wirst ihn sicher kennen lernen.

Einen lieben Gruß
Amélie

 


3 [2. April 2001]


Liebe Amélie,

warum heißt du eigentlich nicht Ilse oder Brunhilde? Wäre das nicht besser, um zu erkennen, dass du eine Deutsche bist? Als ich noch von Philadelphia aus Paris anflog (ich hatte gerade meine ersten Streifen, und Fliegen war immer noch das Größte für mich), war Amélie doch ein französischer Name? Oui ou non? Und dann erst das blonde Haar, das doch wohl echt ist? Gibt es da etwa ein dunkles Familiengeheimnis? Jedenfalls bin ich gespannt!

Gruß
Johnny

PS: Mein Ball hat nass aber glücklich das Grün erreicht, ebenso ich. Der Ball ist dann leider versprungen - ich kann dir nur einen Putt über zehn Meter anbieten…

 



4 [4. April 2001]

Lieber Johnny,

der Urvater meines Vornamens war wirklich ein französischer Soldat, der im 2. Weltkrieg als Kriegsgefangener nach Deutschland kam. Er hatte Glück. Er musste zu einer Winzerfamilie in der Südpfalz. Die Familie behandelte ihren Erntehelfer wie man einen Menschen behandeln soll. Zum Dank blieb Henri auch nach dem Krieg, als mein Großvater in russischer Gefangenschaft war. Er sollte erst Jahre später zurückkehren. Henri half in dieser schwierigen Zeit, wo er konnte. Er war der einzige Mann auf dem Hof. Ein paar Jahre später heiratete er meine Mutter, die älteste Tochter des Winzerpaares. Ihrer ersten Tochter gaben sie den Namen von Henris Großmutter: Amélie. Das ist mein dunkles Geheimnis.

Den Putt habe ich bis auf 50 cm an die Fahne gelegt. Mehr ging nicht. Jetzt darfst du beweisen, dass dich mein dunkles Geheimnis nicht aus dem Gleichgewicht wirft!

Amélie

PS: Natürlich sind die blonden Haare echt! Wie den Vornamen verdanke ich sie meiner Grandmère, die aus Brest stammte. Grandmère Amélie hatte Haare, die aussahen wie weißer Seesand (mein Grandpère hat immer gesagt, dass sämtliche Winde des Atlantiks dafür gesorgt hätten).



5 [9. April 2001]


Liebe Amélie,

du kennst das: in einem anderen Land versucht man die paar Stunden, die einem zwischen den Flügen bleiben, tot zu schlagen. Ich kenne nicht wenige, die darüber zum Saufen gekommen sind. Ich hatte Golf. Das muss mich gerettet haben. Obwohl ich Deutschland seit vier Jahren anfliege und hier gebased bin (erst München, dann Berlin, jetzt Köln), habe ich nicht viel gesehen. Nicht mal die Südpfalz. Ich habe mich meist nur nach dem nächsten Golfcourse erkundigt. Schwierig sollte er sein. Und einen Gast willkommen heißen. Was bei euch auch schon ein wenig schwierig sein kann, manchmal. Aber auch in den Staaten gibt es Privatclubs, die sich abschotten. Geschenkt. Das Erste, was ich dachte, nach unserem kurzen Zusammentreffen (Frankfurt-N.Y, wir waren gestartet und auf Autopilot, der Kopf war wieder frei): Hoffentlich glaubt Amélie nicht, ich würde mich auf diese Weise durch die Welt ‚spielen'. Ich schwöre, dass die Idee auch für mich unerwartet kam. Du hast mich so ruhig und erwartungsvoll angesehen (graublaue Augen oder täusche ich mich? - nein, sie waren graublau!), als wüsstest du es schon. Ich glaube, du hast es kommen sehen! Und mir war, als dürfte ich dich nicht enttäuschen.

Liebe Grüße
J.

 

 


6 [11. April]


Lieber Johnny,

merci für deine Zeilen! Hellblau. Meine Augen sind hellblau. - Ich sitze hier auf der Terrasse des Clubhauses und habe mir eine ruhige Ecke ausgesucht. Denn heute war Damengolf und meine Geschlechtsgenossinnen hecheln hinter einer gemeinsam verbrachten Runde nicht nur die Runde durch. Da seid ihr natürlich ganz anders -:). Ich glaube, ein neuer Ladies Captain soll gewählt werden, und da ist Gesprächsstoff genug. 'Wenn du neue Bekanntschaften schließen willst, versuche einen falschen Ball zu spielen!' Sicher kennst du den dummen Spruch. Er hat so einen bedrohlichen Unterton, finde ich, den ich nie gemocht habe. Aber als ich deinen Ball gespielt habe: absolut ignorant! Ich dachte wohl, wo ein Ball von mir hingeflogen ist, kann auch nur meiner liegen. Ein Anfängerfehler! An sich ist es ja weiß Gott nichts Ungewöhnliches, dass gleichzeitig zwei oder mehr Leute auf dem Platz suchen. Wie dumm man hinterher dasteht! Erst zwei Schläge weiter, nach dem Einlochen, hab ich bemerkt, dass der Ball in meiner Hand nicht meiner war. (Die Damen in meinem Flight meinten zwar: "Ist ja nur ein Privatspiel!" und zogen gleich ein langes Gesicht, weil ich trotzdem zurück wollte.) Aber Dummheit muss eben bestraft werden, nicht wahr? Und dann sah ich dich suchen und hatte gleich so ein seltsames Gefühl…

Ich hätte diese Runde dann lieber mit dir fortgesetzt - warum soll ich das nicht zugeben? Insofern war deine Idee wunderbar. Hast du eine Ahnung, wann ich zuletzt ganz altmodisch 'ein paar Zeilen' geschrieben habe, die nicht als SMS oder Email eintrudeln sollten?

Ein lieber Gruß
Amélie

PS: Als wir uns beide noch einmal umdrehten und gegenseitig dabei ertappten, ich hab dein Lächeln vor Augen!

 

 

7 [23. April]

 

Liebe Amélie,

vielleicht interessiert dich, wie ich zum Golf gekommen bin? In den späten 60ern hatte der Vater von Tim McGultry, mit dem ich auf der Highschool befreundet war, ein paar lange Eisen aus Las Vegas mitgebracht. Er hatte sie dort gewonnen (jedenfalls behauptete er das sein Leben lang). Roger McGultry war Zahnarzt in Tomcaville. Bisher hatte er nur Tennis gespielt, und so schlug er mit einem Callaway Eisen 3 ausrangierte Tennisbälle hinter seiner Scheune in den Acker. Tim und ich mussten sie wieder einsammeln. Dann ließ er sich aus Wichita richtige Golfbälle schicken. Jedem, der wissen wollte, was er da eigentlich anstellte, beschied er (zwei Reihen wie Perlmutt glänzender falscher Zähne in ganzer Breite vorschickend), er spiele nun Golf wie die feinen Leute in Vegas. Einmal kam seine alte Mam hinters Haus und sah sich das Gehaue eine Weile missbilligend an. Jahre zuvor war sie an Kehlkopfkrebs operiert worden, und so dröhnte sie in ihr Verstärkungsrohr: "Dann dreschen auch die reichen Leute dort in Vegas in ihre verdammten Äcker?" Das war der Anfang des Golfplatzes von Tomcaville/Kansas, etwa 100 Meilen nördlich von Wichita, im endlosen Mittelwesten der USA. Roger sammelte emsig in seiner Zahnarztpraxis Interessenten und gründete einen Verein, dessen Präsident er logischerweise zeitlebens blieb. Nach zwei Jahren hatten die Händler, Farmer, Lehrer, Ärzte und Techniker die ersten neun Löcher angelegt. Land gab es genug, das war nicht das Problem. Tim und ich machten die Balljungen und verdingten uns als Caddies. Später stellte der ‚Tomcaville Golf and Country Club' für halbe Tage einen Trainer ein. Damit zog dann so langsam ein ernst zu nehmendes Golfspiel bei uns ein. Wir Jungen waren nach der Schule fast immer auf dem Platz. Als Tim 17 war, gewann er die Clubmeisterschaft. Ich war im Jahr darauf dran. Ich hoffe, du bist beeindruckt!

Johnny

PS: Ich wünsche mir einen Abschlag Mitte Fairway. Ich stelle mich also auf ein kurzes Eisen ein.


 


8 [2. Mai 2001]

 

Lieber Johnny,

ist dir auch so nach Frühling? Diese Luft, mmh, und dieses grüne Grün! Ich könnte die ganze Welt umarmen und mich dabei pausenlos drehen. Ach, wie gern hätte ich in den 1. Mai hinein getanzt! Aber Gottvater, mein Crewplaner, hat von ganz oben zu mir gesprochen: ‚Liebe Amélie, deine Frühlingsgefühle sind mir herzlich wurscht! Also bitte: einmal Teneriffa und zurück!' Du weißt sicher, wovon ich rede, Johnny. Bin um Mitternacht nach Hause und todmüde in mein Bett gefallen. Aber als ich heute auf den Platz kam und zu der markierten Stelle, flog vor mir ein Vogel auf. Unter überhängenden Birkenzweigen war ich also nicht allein. Ich habe ihn Pierrot genannt, weil er schwarz und weiß war, mit einem langen gezackten Schwanz und einem spitz zulaufenden Schnabel. Mir schien, als hätte Pierrot gewartet, bis ich komme und genau diesen Platz in Anspruch nehme.

Ich glaube, du hast das so ausgesucht!

Dank dafür sagt
Amélie

 

 

9 [7. Mai 2001]

 

Liebe Amélie,

ich habe mit irgendjemandem über unser Spiel reden wollen. Und die Wahl war wohl nicht besonders klug. Bert ist auch Kapitän und seit Jahren mein Freund. Du weißt, dass es immer wieder Gelegenheiten gibt, wo man froh ist, wenn da einer für einen einspringen kann. Und Bert hat das oft für mich getan. Andererseits ist er auch ein Zyniker und Idiot. Er hat nicht gerade selten Enttäuschungen mit Frauen erlebt (woran er zum guten Teil selbst Schuld war), und insofern begriff er überhaupt nicht, worum es ging. Er hat sich längst auf das nahe liegende zurückgezogen: Stewardessen. So klischeebeladen es ist, so realitätsgesättigt ist diese Vorstellung: das fliegende Personal, du kennst das, verbringt soviel Zeit miteinander, auf engstem Raum, Tage und Nächte. Man wohnt im selben Hotel, isst im selben Restaurant, schläft …. Jedenfalls ist diese Art von 'gleitender Beziehung' (wie Bert das nennt) für ihn und bestimmtnicht nur für ihn das einzig realistisch Erstrebenswerte. Und so erzählt er mir alle paar Wochen von einer neuen ‚gleitenden Beziehung' und welche Fluglinie er auf diese Weise 'von innen' kennen gelernt hat... Pardon. Das Erste, was er sagte, war: "Soll das heißen, ihr wart noch nicht im Bett?" Es war wie ein eiskalter Guss. Schlimmer war jedoch, dass ich unsicher wurde. Bert würde wahrscheinlich sagen: "Du bist einfach ein romantischer Idiot!" - etwas in der Richtung.

Es wäre nicht die erste große Illusion in meinem Leben.

J.

PS: Die Balllage meiner Stimmung gemäß: im Bunker, unterhalb der Kante. Sorry.



 

10 [9. Mai 2001]


Lieber Johnny,

dein Ball war wirklich eine harte Nuss, vor allem weil das Grün so abschüssig ist. Andy, der Dienst hatte und mir den Umschlag gab, grinste übrigens wie ein Schneekönig! Ich vermute stark, die Sache spricht sich in Windeseile rum! Obwohl ich meinen Mund gehalten habe. Jetzt müssen wir dem Clubleben was bieten! Ich habe mir richtig Mühe gegeben, und den Ball nahe an die Fahne legen wollen. Sah zuerst auch sehr gut aus, jedenfalls optisch: der Sand stäubte nur so! Ellen, eine Flightpartnerin an diesem Mittwoch, rief schon emphatisch: "Super gemacht!" - Allerdings hatte sie gerade erst die Platzreife und bewunderte jeden meiner Schläge. Leider ist der Ball dann doch noch ziemlich weit gelaufen und wieder vom Grün runter. Jetzt liegt er so schroff am Rand des gegenüberliegenden Bunkers, dass du wohl drinnen Stand nehmen musst...

Was deine Stimmung angeht (oder auch deinen Freund Bert) so versichere ich dir, dass ich solche Typen kenne und mit ihnen umzugehen weiß. Und dann kann ich dir noch versichern, dass mir der Gedanke immer besser gefällt, wenn ich allein oder mit anderen über den Platz gehe, auch mit dir zu spielen.

Deine Amélie

 


11 [14.Mai 2001]

Liebe Amélie,

danke für deine Zeilen. - Wenn etwas Ruhe im Cockpit einkehrt, man übergibt an den Ersten, kann einen Moment durchatmen… sicher kennst du das. Ich lasse mir dann Tee bringen. Ja, Tee! Wie ein Engländer in einer National Geografic-Doku über das Leben auf den britischen Inseln. Mit Milch und Zitrone. Lach' nicht! Dabei bin ich weiß Gott kein Engländer. Es würde mich sogar wundern, wenn in Tomcaville jemals ein Engländer gewesen ist. Solange ich denken kann, hat man die Fremden an einer Hand abzählen können. Ein Engländer wäre eine kleine Sensation gewesen: Stoff für seitenlange Artikel im ‚Tomcaville Cronicle'. Und auch nachdem ich weggegangen bin, ist das sicher nicht anders geworden. Meine Mam hätte es mir erzählt. Wenn möglich, besuche ich sie einmal im Jahr. Mein Dad starb bei einem Unfall auf der Farm. Die Farm ist später verkauft worden, doch Mam hat dort ein lebenslanges Wohnrecht behalten. Jedenfalls, wenn ich Zuhause bin, stelle ich bald fest, dass sich nichts verändert hat: ihr Gemüsegarten, die Einmachgläser im Vorratsraum, das Ehebett, das alle paar Wochen mit frischer Wäsche bezogen wird, obwohl meine Mam nicht mehr darin schläft. Hinter dem Haus fängt der Weizen an. Es gab nichts anderes, über Hunderte von Meilen hinweg. Alles wurde dadurch bestimmt, alles festgelegt. Selbst dass ich Pilot geworden bin.

Gruß
Johnny

PS: Gestern habe ich mit meiner Mam telefoniert (‚Muttertag'). Natürlich hat sie gefragt, wie es mir geht. Und natürlich hat sie auch diesmal gefragt, ob ich immer noch fliege… Meine Mam wollte nie fliegen. Nicht einmal mit ihrem Sohn. Sie hat mir keine Steine in den Weg gelegt, als ich Pilot werden wollte. Aber sie wollte nie fliegen. Ich habe ihr das hundertmal angeboten, und jedes Mal hat mich ihre Ablehnung mehr gekränkt, als ich ihr gegenüber zugeben möchte.



12 [16. Mai 2001]

Lieber Johnny ,

heute war es eine schöne, harmonische Runde. Weißt du, ich mag den Platz. Dieses ständige Auf und Ab. Kaum ist man glücklich oben, da geht es den Hügel wieder hinunter. In der Ferne die graue Reihe von Bunkern, die locker um die Grüns gestreut sind, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Dazwischen die Senke, schwer einsehbar. Der Wind kommt oft von vorne und stoppt die Bälle. Man kennt das natürlich aus vielen Runden, zu jeder Tages- und Jahreszeit. Trotzdem ist man nie gefeit: eine plötzliche Böe kann deinen arglosen Ball in die Höhe befördern, jäh wie Schwalbenflug. Und dann greift der Wind erst recht ein und schleudert ihn, als wäre es nun genug des Spiels, endgültig aus der Bahn. Zum Beispiel in die Baumreihe, die wir beide kennen. Zwei Suchende. Als du damals das Callaway-Cap vom Schädel zogst, wolltest du mir zum Abschied die Hand reichen. Du hattest ernsthafte grüne Augen. (Damit meine ich: eben nicht wie ein Spieler!) Und dann hast du gesagt: "Wir werden miteinander spielen. Das müsste doch mit dem Teufel zugehen!" Ich kann nicht gut umgehen mit solchem Ernst. Ich glaube, ich habe dann Angst, nicht angemessen reagieren zu können, irgendwie. Und mir bleibt nichts als ein naives Mädchenlächeln, das mir in solchen Situationen treu geblieben ist.

Ein lieber Gruß

A.

PS: Ich denke, deine Mam hat Angst um dich - aber ich bin sicher, dass sie dich versteht. Erzähl mir doch mehr davon, wie du Pilot geworden bist. Ich mag das, wenn du mir etwas erzählst (obwohl ich selbst mich dabei schwer tue)!

 


13 [21. Mai 2001]


Liebe Amélie,

ich habe mittlerweile viele Golfplätze gesehen: vor allem auch solche, die sich durch grüne Wälder oder anmutige Parklandschaften ziehen. Manche habe ich gezielt aufgesucht, andere habe ich gespielt, weil ich als Pilot Städte in der Nähe angeflogen habe. Ich habe viele Menschen kennen gelernt, die sich mit mir zu einem zufälligen Flight zusammengetan haben. Aber die weitaus meisten Gesichter habe ich vergessen. Flights kommen und gehen. Manchmal denke ich an die knochentrockenen Fairways meiner Kindheit, an braunes Gras, das von der Sonne versengt ist. Im Sommer war es bei uns oft über vierzig Grad, sodass die Hitze über den Feldern greifbar schien wie eine eigene Dimension. Im Winter fiel das Thermometer nicht selten unter 20 Grad minus, und wenn ich eine Weile draußen war, suchte Mam hinterher mein Gesicht nach weißen Flecken ab. Es gab in Tomcaville wenig Geld, um so etwas wie einen Golfplatz anzulegen oder zu unterhalten. Doch ich habe dort, in Tomcaville, Kansas, das Entstehen eines Golfplatzes miterlebt, als Junge, der hinter verirrten weißen Bällen herspürte und der wusste, dass er im Rough auf Schlangen achten musste. Und natürlich erstreckten sich rings um den Platz Weizen- und Maisfelder. (Übrigens hatte auch der Tod meines Vaters mit Weizen zu tun: er geriet mit seinem linken Arm in das Schneidwerk einer Erntemaschine und verblutete, bevor Hilfe eintraf). Warum erzähle ich dir das alles? Vielleicht weil ich dir sagen will, dass ich in letzter Zeit auch sehr gerne an unser Spiel auf ‚unserem' Platz denke.

J.

PS: Was meinen Schlag angeht, wollte ich galant sein und dir nur noch ein Tap-in lassen. Doch der Chip war eine Katastrophe: beinhart getroffen schoss der Ball zehn zwölf Meter am Loch vorbei und stoppte erst im Vorgrün! Sag selbst: war das galant? Um viel Nachsicht bittet

Johnny!


 

14[23. Mai 2001]


Lieber Johnny,

meine früheste Vorstellung vom Fliegen hatte mit einem Lied zu tun, das ein deutscher Liedermacher (in den 70ern, glaube ich) gesungen hat: 'Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein …' (bitte lach' nicht - ich hab ja längst meine Lektion!!!) Dennoch glaube ich, dass auch mein verblichenes Ideal von Golf damit zu tun haben könnte: Abends noch über den Platz gehen, die Dämmerung setzt ein, man merkt irgendwann, dass man weit und breit allein ist… Ja, Flightpartner kommen und gehen. Jetzt liegt es an uns, was wir draus machen.

A.



15 [28. Mai 2001]


Liebe Amélie,

du wirst mich zwar für verrückt halten, aber ich war heute um Mitternacht auf dem Platz. Und das kam so: Am Nachmittag hatte ich mir schon den Umschlag geholt (das Grinsen von Andy!), als ich einen Anruf von meinem Crewplaner bekam: ich musste für Bert einspringen, der krank geworden war. (Shit!) Allerdings eine kurze Strecke. Gegen Mitternacht war ich zurück. Aber weil ich doch schon aufs Spielen deines Balles eingestellt war, fehlte mir einfach was. Ich war nach diesem chaotischen Tag überhaupt nicht müde, sondern furchtbar aufgedreht. Zugleich war ich sauer auf Bert, obwohl der ja nichts dafür kann, wenn er krank wird. Ich aß Nudeln mit Butter und Ketschup, schaute die Latenightnews über irgendwelche fernen Krisengebiete und sah immer wieder aus dem Fenster, wie bei einem totalen Regentag, wenn man hofft, dass das Wetter doch noch gut wird, damit man auf den Platz kann. Irgendwann stand dann der Mond so superhell am Himmel, dass ich mir mein Bag schnappte und auf den Platz fuhr. Natürlich war kein Mensch mehr da. Wir hatten schließlich zwei Uhr durch. Ich schlug mich nicht ein (es gab ja keine Bälle, und überhaupt), sondern ging gleich zu Loch 4, um die Stelle zu suchen. Ich fand sie auch, obwohl der Ball zunächst im Mondschatten eines Baumes lag. Ich wartete eine Weile, bis er deutlich zu erkennen war. Dann schlug ich ihn weg und es war gut. War ich zuvor wie in einem Käfig aus Gedanken, so tauchte ich mit diesem Schlag ab in den Zustand des Platzes. Ich atmete die Stille (die eigentlich keine war. Ich fühlte das feuchte Gras an den Knöcheln, als ich durchs Rough streifte. Was ich mir wünschte, war, mich mit dir zusammen in dieser hellsichtigen Dunkelheit über den Platz zu bewegen. Ausgesetzt und vertraut zugleich. Ich verspürte den Wunsch nach ungeheurer Nähe, ja, ich wurde überrollt von einer Welle der Sehnsucht, die über meinem Körper zusammenschlug, schwere See, gefährliche Turbulenzen. Erst als mir das klar wurde, begann ich ruhiger zu werden. Ich ging über den ganzen Platz. Ich fuhr erst nach Hause als der Mond verschwand.

J.

PS: Den Ball habe ich nicht mehr gefunden. Ich weiß nicht warum. Ich hatte eigentlich den Eindruck, es sei ein guter Schlag gewesen. Aber es ist nicht das erste Mal, dass die Nacht unsere Illusionen verschluckt.




16 [30. Mai 2001]


Lieber Johnny,

waren das deine Nachtseiten (als Pilot, als Golfer)? Ich finde es umwerfend, zu welchen Zeiten uns unser Spiel auf den Platz treibt. "Ich fliege!" Erinnerst du dich, als ich das gesagt habe? Wir waren endlich an der Baumreihe, und du hast mich angeschaut. Du warst verblüfft: "Dann sind Sie Stewardess?" hast du gefragt, und obwohl es so neutral war, wie ein Mann nur fragen kann, hat mich deine Frage geärgert. "Ich bin Pilotin!" habe ich geantwortet und hinzugefügt: "Und Sie? - Flugbegleiter?" (Denn das musste sein!) Aber deine Rechte ging schön melodramatisch zu deinem Herzen, dass ich gleich wieder versöhnt war. "I'm so sorry!" hast du mit einer Verbeugung gesagt: "Aber die Chancen, hier eine Kollegin zu treffen, standen eins zu zehn Millionen." Dann hast du den Ball gedropt, um ihn zwischen den Bäumen hindurch zurück auf dein Fairway zu schlagen. Ich hab dich von der Seite angeschaut. Dein Gesicht war ganz konzentriert, und ich habe gedacht: wie eine Schamanen-Maske aus Elfenbein! Als du glücklich durch warst, musste ich endlich zu meinem Flight: "Noch mal sorry!" habe ich gesagt. Aber du hast gesagt: "Nur, wenn wir zusammen spielen." Ich habe gesagt, dass ich im Moment nicht planen kann. Und du, dass wir trotzdem spielen werden. Du hattest einen geilen Ami-Piloten-Akzent. Du warst super groß, mit grünen Augen und einer großen Narbe über dem linken Ohr. Sodass ich mich gefragt habe: Wo hat er die denn her? Vielleicht war ich deshalb einfach neugierig und habe gesagt: "Machen Sie einen Vorschlag!" Ja. So war es.

Ein lieber Gruß von

Amélie (die heute kaum wagt, dir die Balllage des Tages vor Augen zu führen!)

 

 

 

 


17 [4. Juni 2001]


Liebe Amélie,

‚Schamanen-Maske aus Elfenbein'? Ich weiß nicht, was meine Mam dazu sagen würde. Auch ich erinnere mich genau an unsere Begegnung - nur etwas anders: Ich wollte nicht in die Wintergerste auf der linken Seite. Und wie das so ist, habe ich kräftig übertrieben, den Ball fürchterlich nach rechts verzogen und bin in der Baumreihe gelandet. Ungefähr da, wo dann eine Frau von der 8 kam und das gemeinsame Rough absuchte. Sie war blond, eher groß als klein und hatte eine hellgrüne Jacke um die Hüften. Das warst du. Später habe ich dich wieder gesehen: Eine super hübsche blonde Frau, die vom Laufen außer Atem war, weil sie mir meinen Ball zurückbringen wollte. Ich war beeindruckt, denn das hatte ich noch nie erlebt: dass ein verlorener Ball von einem solchen Boten zurückgebracht wurde. Als wir gemeinsam zu der verdammten Baumreihe getigert sind, habe ich gleich gesagt: "Wir müssen unbedingt einmal zusammen spielen!" Aber du hast geantwortet: "Das tun wir ja!" und mutwillig gelacht (dass ich wirklich kaum ein noch aus wusste). "Also ich dachte an 18 Löcher", habe ich dann gesagt. Aber du hast geantwortet: "Schwierig. Denn ich bin viel unterwegs." Und dann, vielleicht kannst du dir mein Erstaunen vorstellen, als ich erfuhr, dass die schöne Botin im wahrsten Sinne des Wortes beflügelt war...

J.

PS: Die Narbe hab ich von Tim, der damals mein bester Freund war. Wir sind zusammen auf die Highschool gegangen, wir haben zusammen Golf gespielt und dann hat er mir ein Eisen 7 an den Schädel gehauen, weil ich in sein Mädchen verliebt war - oder er in meins.

 



18 [6. Juni]


Lieber Johnny,

heute war die ‚schöne Botin' für ein Stündchen im Stadtgarten. Bei herrlichem Sonnenschein hat sie sich auf die Wiese gelegt (wie viele andere auch) und ausgezogen, bis auf einen verflixt kleinen roten Bikini (damit du weißt, dass die schöne Botin ab und zu mehr von sich zeigt, als auf dem Platz zu sehen war!). Dabei ist es, wie ich finde, eine unerhörte Mutprobe! Denn nach ein paar Runden auf dem Platz (wenn man nicht gerade im Regenanzug versinkt), sind Gesicht, Arme und Beine - je nachdem, was man trägt - so braungebrannt, dass jeder denkt: Mauritius oder die Seychellen! Nur dass der Kontrast zum übrigen Körper schlichtweg uneinholbar ist. Deshalb ist es eine unerhörte Mutprobe. Denn es kann nur komisch wirken, wenn ich einen Bikini anziehe... Was wollte ich eigentlich sagen? Du denkst jetzt, ich plädiere für Bikinigolf? Im Stadtgarten gesellte sich so ein smarter Bursche zu mir. Und weißt du, was er als erstes sagte? Er sagte: "He Baby, cool, du spielst Golf!" Ich fand das ziemlich dreist. Musste aber lachen, denn er hatte ja Recht. (Wahrscheinlich war ich auch geschmeichelt, weil der Bursche lockere zehn Jahre jünger war...)
Warum ich dir das schreibe? Ach ja, weil ich meinen Ball ins Wasserhindernis bugsiert habe. Allerdings nicht mitten rein und platsch. Schlimmer. Er ist sanft übers Grün gerollt und noch die kleine Erhebung dahinter rauf geklettert - allerdings nur, um ebenso sanft auf der anderen Seite wieder runter zu rollen, bis ins Wasser. Dabei habe ich mehrfach inbrünstig: "Sit! Sit!" gerufen. Aber nichts! Dieser Ball hat einfach nicht auf mich gehört! Er liegt im flachen Uferbereich. Ich schätze, kaum zehn Zentimeter unter Wasser. Für Draufgänger also spielbar. Vergiss aber die Badehose nicht! :-)

Liebe Grüße

Deine Amélie

 

19 [11. Juni 2001]


Liebe!

Habe aus dem Wasser geschlagen! Mich voll gesaut mit mehreren Kilo Uferschlamm, von oben bis unten. Freilich ohne den Ball zu beeindrucken, der noch im Wasser liegt - wie ich feststellen konnte, als ich mein Gesicht endlich mit dem Schlägertuch gereinigt hatte und auch das Wasser allmählich wieder klar geworden war. Allerdings scheint er nun zwei Zentimeter tiefer eingesunken. Wie auch immer: Schönes Spiel und Petri Heil!

Johnny

PS: Würde deinen Versuch im roten Bikini nur zu gerne sehen - denk aber deshalb bitte nicht, es wäre Absicht gewesen.




20 [4. Juli 2001]


Lieber Johnny,


unsere Art ‚Twosome' zu spielen, hat sich herumgesprochen. Jedenfalls schien es für die Damen meines Flights heute die natürlichste Sache der Welt, dass man eine Golfrunde unterbricht, um noch einen anderen Ball zu schlagen, den man vorher sorgfältig nach Plan und Foto gedropt hat. Ich will nur sagen: all das um mich herum störte mich einen Scheiß (verzeih die Ausdrucksweise). Denn der Ball lag dann unter einem wüsten Gestrüpp von Heckenrosen. Gleich daneben blühte die überhaupt nur schönst mögliche mit einem zart-rosa Kern. Es war wie ein Schock, mir stiegen Tränen in die Augen, ich weiß nicht…, dabei bin ich sonst nicht so. Die Damen meines Flights fragten nicht lange, sondern guckten sich viel sagend an. Du weißt, wie man in unserem Beruf mit Technik und Naturwissenschaften konfrontiert wird. Cool und exakt hat alles zu sein. Ein Blick ins Cockpit genügt, um jeden davon zu überzeugen. Aber als ich die kleine Blüte sah, wollte ich einfach mal an etwas glauben. Zum Beispiel, dass du den Ball absichtlich dorthin geschlagen hast! Du wolltest, dass ich diese Rose wahrnehme, damit ich weiß, dass nun das Schicksal in meinem durchgeplant sinnlosen Leben aufgetaucht ist, machtvoll und unabänderlich, und mir ein Zeichen gibt. Bin ich überspannt? Vielleicht bin ich das. Verzeih, wenn es so ist, das heißt, nein, tu es nicht!

Den Ball habe ich rigoros nach der Winterregel behandelt (damit du weißt, wie ich von jetzt an mit einer Million Regeln umgehe!): hab ihn besser gelegt, zwanzig Zentimeter, eine Scorekartenlänge, aber nicht näher zum Loch! Und habe meine Rose geschont.

 



21 [16. Juli 2001]


Liebe Amélie,

wegen des Feiertags war ich eine Woche in den Staaten. Habe meine Mam besucht und Tomcaville. Da kommen viele alte Erinnerungen hoch. Ich war zweimal verheiratet. Das ist ziemlich viel. Und doch wenig, wie ich finde, weil ich tatsächlich die Frauen, mit denen ich zusammengelebt habe, auch geheiratet habe. Ich fand das in Ordnung so. Du weißt, ich stamme aus dem Mittelwesten. In die Wiege gelegt war mir eher ein Farmerleben. Aber da gibt es bei uns die kleinen Maschinen, von denen aus die riesigen Felder mit Pflanzenschutzmitteln besprüht werden. Die Jungs, die die Kisten flogen, holten die aberwitzigsten Flugmanöver aus ihnen heraus. Schon als kleiner Junge stand ich da, beschattete meine Augen gegen den blendend blauen Junihimmel, um den Maschinen zu folgen, staunte und riss den Mund auf, wenn sie plötzlich über dem Haus auftauchten. Das wollte ich auch können. Als ich etwas älter war, nahmen mich die Piloten manchmal mit. Mit roten Backen und wehendem Haar über unsere Felder. Mein Traum vom Fliegen, der schon fast in Erfüllung gegangen war. Über solche Felder bin ich später nie geflogen - es sei denn in dreißigtausend Fuß Höhe. Aber irgendwann habe ich den Sprung in die ganz großen Vögel geschafft - zu dieser Zeit sicher der wichtigere 'Traum'.

Einen herzlichen Gruß sendet dir

Johnny

 


22 [18. Juli 2001]


Lieber Johnny,

ich habe dich schon sehr vermisst! Ich weiß nicht, wie es bei dir war: aber was für ein Mistwetter ist hier! Trotzdem bin ich häufig raus auf den Platz, weil ich hoffte, dort allein zu sein. Auch heute. Ich habe mir von Andy den Umschlag geben lassen und deinen Brief gelesen, es sind ja doch Briefe. Ich habe mich in die nächste Ecke gestellt wie ein schüchternes Schulmädchen und gelesen, hastig, um so schnell wie möglich alles zu erfahren, dann noch einmal, mit dem Finger Zeichen abfahrend wie Verse. Danach schaue ich mir das Foto an, um die Balllage zu identifizieren. Meist ist es ja nicht so schlimm wie du schreibst. Ich schaue durchs Fenster, als könntest du dort auftauchen. Es regnet. Nein, es gießt in Strömen. Niemand geht jetzt auf den Platz. Aber jede dunkle Gestalt dort draußen könntest du sein. Dann ziehe ich meinen Regenanzug an, der schwarz ist mit gelben Doppelstreifen (falls du mich beim nächsten Regen suchen willst). Ich setze den Regenhut auf, ziehe ihn ganz tief in die Stirn. Und dann werfe ich mir das Bag über die Schultern und ziehe los.

A.



23 [23. Juli]


Liebe Amélie,

in den letzten Tagen ‚durfte' ich Singapur und zurück und bin heute nach über sechzehn Stunden etwas ratlos vor meiner Appartementtür gelandet. Ich fühle mich wie gerädert, und ich merke, dass mich vieles an diesem Leben nicht mehr fasziniert, ja ich verspüre Ekel, wenn ich an manche Begleiterscheinungen des Berufs denke (nicht ans Fliegen selbst!). Ganz gleich wie verlockend die Destination sein sollte: ich will nicht mehr immer unterwegs sein. Familie, Freunde, ein Platz, an dem man sich Zuhause fühlt, das kommt mir wie ein unerreichbarer Luxus vor. Jede Frau, die ich geliebt habe, hat mich irgendwann verlassen, weil ich nie da war. Ich bin der Mann, der nicht da ist, wenn man mich braucht. Viermal bin ich in den letzten acht Jahren umgezogen - und ich habe nicht den geringsten Schimmer, wo ich morgen oder übermorgen gebased sein werde. Längst weiß ich nichts mehr über einstige Freunde und Bekannte, doch ich kenne tausend Tricks, wie man sich an einer neuen Destination möglichst effektiv versorgt: die Runde im Supermarkt, Kino, Tankstelle, Zahnarzt… Ich weiß nicht, in wie vielen Hotels ich in meinem Leben übernachtet habe. Aber ich weiß, dass die meisten eine Bar hatten und dass ein reger Wettbewerb herrscht unter den Crews, wer wie viele Barkeeper mit Namen kennt. Seit drei Jahren war ich Weihnachten nicht mehr zu Hause. Aber wo zum Teufel ist mein Zuhause? Manchmal ist für einige Stunden der Golfplatz mein Zuhause. Manchmal, für einige Stunden, ist es eine 737 oder 757. Aber meist bin ich im Layover zu Hause.
J.

 

24 [25. Juli]


Lieber Johnny,

denkst du, dass unser dummes Spiel alle Möglichkeiten blockiert - ist es so? Wenn ich allein über den Platz gehe, spiele ich in meinem Kopf viele Möglichkeiten durch. Zugleich spiele ich mein Spiel. Du fragst jetzt sicher: Welches? Und ich weiß es nicht. Aber das habe ich schon als junges Mädchen geantwortet, wenn es schwierig wurde. Nach langer Zeit erscheint mir mein Leben wieder so ungeordnet wie früher. Doch - zu meinem eigenen Erstaunen - scheint das mehr Möglichkeiten zu schaffen, als ich mir hätte vorstellen können. Und das, nachdem ich jahrelang versucht habe, mein Leben zu ordnen!

Amélie

PS: Ich habe keine Ahnung, was ich tun werde, wenn wir unser Spiel zu Ende gespielt haben. Vielleicht gehe ich nie wieder auf einen Platz, rühre nie wieder ein Eisen an? Den Ball habe ich irgendwo in die Büsche gehauen, wie wahnsinnig. Ohne Foto. Was willst du nun tun, Spieler?

 

 

25 [30. Juli 2001]


Liebe Amélie,

gestern traf ich im Aufzug eine junge Frau, Cindy, eine Stewardess, die im Appartement unter mir wohnt. Sie hielt beide Hände über ihren Bauch (der nach wie vor superschlank war) und strahlte mich an: "Ich krieg' ein Kind! - Verstehen Sie?" Es klang so, als ob man im mittleren Westen keine Kinder bekäme. Ich war wie betäubt. Eigentlich schon den ganzen Tag über: alle Handgriffe im Cockpit traumwandlerisch, alles, was ich sagte, schienen nur vorgefertigte Automatismen, ich fühlte mich selbst wie ein Autopilot. Schließlich brachte ich heraus: "Das freut mich!" Aber es war zu spät - diesen winzigen Moment zu spät, der über Gelingen oder Nichtgelingen entscheiden kann. Die junge Frau hatte schon die Stirn in Falten, ihre Augen strahlten mich nicht mehr an, sondern beäugten mich misstrauisch, als müsse sie sich von nun an vor mir in Acht nehmen.

Johnny

PS: Sind das Zeiten zum Bälle schlagen?


 


26 [1. August 2001]


Lieber Johnny,

ich sitze wieder allein auf der Terrasse unseres Golfclubs und frage mich, wo du gerade sein könntest. (Ich gehe allerdings davon aus, dass du nicht Golf spielst, sondern etliche tausend Fuß über dem Boden schwebst.) Ich habe mich gefragt, was wir täten, wenn wir uns nicht dieses Spiel auferlegt hätten. Ich habe so viele Illusionen verloren, dass ich nicht mehr weiß, welchem Gefühl ich folgen darf und welchem nicht. Vielleicht gehört dazu, ein solches Spiel zu beenden, wenn man in ein spielbares Leben wechseln könnt? Du hast hin und wieder ganz ungeschützte Tonlagen angeschlagen, die mich vor allem deswegen erschrecken, weil ich nicht weiß, wie ich ihnen gerecht werden soll. Zugleich tragen sie mich in einer Weise empor, als gelte die Schwerkraft nicht mehr. Mag sein, lieber Johnny, dass ich jetzt, mit 42 Jahren, soweit bin, dieses Empor-getragen-werden zu akzeptieren, nein: zu ersehnen! Doch was ich nun fürchte (während ich hier sitze, nach einer mittelmäßigen Runde, wie sie das täglich Brot unserer Passion ist), ist, dass wir zu spät sind und ungleichzeitig in unseren Wünschen und in dem, was wir ihnen folgen lassen. Wie so viele andere, von denen wir hören, wenn sie uns von ihren enttäuschten Hoffnungen, von ihren vergeblichen Illusionen und letztlich ihrem banalen Scheitern erzählen. So will ich diesmal nicht enden.

Amélie

 


27 [13. August 2001]


Liebe Amélie,

heute waren zwei Ladies in meinem Flight, die meiner Einschätzung nach Andy oder sonst wen im Sekretariat bestochen hatten, damit er ihnen zusammen mit mir eine Startzeit zuteilt. Beide waren Mitte bis Ende Fünfzig, schlank, gut und teuer gekleidet, von jenem Country- und Golfstyle á la Strenesse und Bogner, wie er in allen Ländern anzutreffen ist. Jedenfalls zogen wir eigentlich ganz normal los, bis ich erklärte, einen weiteren Ball spielen zu müssen. Die beiden schauten sich begeistert an, und die etwas Größere und vielleicht etwas Jüngere sagte: "Dann stimmt es also, was man sich erzählt?" Ich fragte zurück: "Was erzählt man sich denn?" Die Größere schaute ihre Freundin an und sagte dann geradezu verzückt: "Dass sich hier eine richtig romantische Lovestory abspielt!" "Auf unserem Platz!" fügte die andere hinzu: "Da ist man doch neugierig!" "Was wollen Sie denn wissen?" "Oh, eigentlich alles. Vor allem, wer diese aufregende Idee gehabt hat? So was geht doch meist vom Mann aus, hab ich Recht?" Für einen Moment lag mir auf der Zunge, dass der Clubmanager die Idee gehabt hätte. Aber ich sagte einfach nur: "Stimmt!" "Sehen Sie!" sagte die Kleinere. "Und wie soll's weitergehen?" "Mit dem nächsten Schlag", sagte ich: "Bis irgendwann der Platz gespielt ist." "Das ist wirklich ungewöhnlich, wenn man bedenkt..." "Was meinen Sie?" "Ja, diese Geduld. Diese Ausdauer."
Es war eine seltsame Runde. Ich hatte keine Lust, etwas preiszugeben. Aber ich unterhielt mich mit diesen Frauen über eine gewisse Wegstrecke hinweg über ‚Beziehungen'. Die beiden setzten offenbar voraus, dass es bei uns anders sein würde. Ich wurde immer unsicherer. An Loch 14 täuschte ich einen wichtigen Termin vor und ging. Auf einmal, Amélie, war es für mich, als würden wir beide uns seit Jahren kennen und jetzt erst entschließen, zusammen zu leben - sodass nunmehr ganz andere Fähigkeiten gefragt sind.

Ein Gruß von

Johnny, der in letzter Zeit viel zu nachdenklich ist.

 


28 [15. August 2001]


Lieber Johnny,

hier noch was ‚zum Nachdenken': Ich hatte die Tage geträumt. Es war seltsam. Das heißt, ich habe von uns geträumt, was an sich ja nicht so seltsam wäre. (:) Aber wir waren andere, zumindest warst du ein anderer. Verstehst du? Es war unübersehbar unsere Begegnung an Loch 8: Die Frau mit den kurzen blonden Haaren und der grünen Jacke um die Hüften bin ja wohl isch. Also, sie ist vom Laufen ganz außer Atem, lächelt den Mann aber nett an. Allerdings ist der Mann nicht groß, und er trägt die Haare viel länger als fünf Millimeter, und dem Akzent nach ist er auch nicht Amerikaner aus dem Mittelwesten, sondern Südländer oder sonst was. Seine drei Flightpartner, die ähnlich aussehen wie er, befehlen ihm, zurückzugehen und den richtigen Ball zu spielen. Die Dame (isch) habe sich schließlich viel Mühe gegeben, um ihm den Ball zurückzubringen. In dem Moment, als der Mann (du?) sich anschickt, zurückzugehen, bin ich aufgewacht. Zweimal hatte ich das geträumt. Seltsam, nicht? Was hat das wohl zu bedeuten? Am Ende etwas Gutes, oder? Aber vielleicht hält man es doch wie vor einem schwierigen Schlag: jetzt nur nicht anfangen darüber nachzudenken!

Ein lieber Gruß
Deine Amélie

PS: Ungeachtet dessen habe ich am hellen Tag einen absolut coolen Pilotinnen-Drive hingelegt. Geradezu himmlisch! Ach, könnte es immer so sein!! Oder zumindest öfter.



29 [20. August 2001]


Liebe Amélie,

gestern hatte ich überraschend frei und bin nicht auf den Platz gefahren, sondern - entgegen jeder Spielregel - zu deiner Wohnung. Ich wollte einfach wissen, wie du lebst. Die Adresse hatte ich von Andy. Ich bin also in die Siebengebirgsallee und habe nach der Nummer 34 gesucht. Es ist wirklich eine eigentümliche Straße: die roten Ziegel des lang gezogenen Gebäudes, die winzigen Vorgärten zwischen den Hauseingängen, gerahmt von grünen Hecken. Das hat mich an Holland erinnert. Als ich eine Zeit lang Amsterdam/Schipohl anflog, war ich an freien Tagen manchmal an der Küste, wo es Städtchen mit solchen Häusern gibt. Ich fand deinen Namen: eine Wohnung im oberen Stockwerk. Es war später Nachmittag. Kein erkennbares Licht in deiner Wohnung. Ich habe nicht geklingelt. Ich wusste aber auch nicht, ob das schon alles sein sollte. Ich ging zu meinem Wagen zurück und parkte ihn näher an der Wohnung. Dann beobachtete ich den Eingang und die Straße. Ich hätte dir nicht sagen können, was ich eigentlich wollte. Auf dem Bürgersteig und in einem dieser kleinen Vorgärten - zwei Eingänge vor der Nummer 34 - spielten Kinder. Andere Kinder fuhren auf Fahrrädern, abwechselnd auf Straße und Bürgersteig, dann durchquerten sie einen Vorgarten und stießen zwischen einer Lücke in der Hecke wieder zurück auf die Straße. Ich sah ein Mädchen auf einem Einrad. Sie balancierte es sehr kunstvoll. Sie hatte blonde, glatte Haare und sah sehr furchtlos aus. Ich musste an dich denken. Obwohl ich doch wenig über dich weiß, bist du in meinen Augen furchtlos. Im Grunde versuchte ich, wenigstens ein Stück weit hinter deine Fenster zu schauen. Einmal kam jemand aus dem Haus: eine junge Frau mit einer Tasche, in der offenbar viele leere Plastikflaschen waren. Einmal ging ein Mann ins Haus. Er war um die fünfzig, trug eine Anzughose und ein weißes kurzärmliges Hemd. Das Sakko hatte er über den Arm geworfen. Ich konnte erkennen, dass sich links im Flur gleich die Briefkästen befinden, denn der Mann stand noch in der geöffneten Tür, als er seinen - ich glaube es war der erste - öffnete. Was wollte ich dort eigentlich? Ich weiß nicht. Eine Ahnung bekommen. Eine Unruhe vertreiben. Jedenfalls war ich danach ruhiger. Ich habe dich jetzt vor Augen, wie du aus dieser Tür kommst, um zur Arbeit zu gehen. Oder wie du vom Einkaufen zurückkehrst. Wie du nach deiner Post schaust, und sogar, wie du eines der Fenster öffnest und dich ein wenig vorbeugst, um den Himmel zu sehen.

Johnny

PS: Nachdem ich zuletzt das Birdy versaut habe, habe ich wenigstens versucht, alles wieder gut zu machen. Dein Drive war wirklich eine bildschöne Vorlage. Aber mein Holz 3 war, glaube ich, auch nicht übel und lässt dir jetzt noch einen Chip an die Fahne. Kein Bunker. Kein Wasser. Nur ein langweilig lang gestrecktes Grün. Ich sehe unseren Ball auf dieser Landebahn schon rollen rollen und rollen …

 


30 [22. August 2001]


Lieber Johnny,

vorgestern hatte ich zum ersten Mal Zypern. Ich war schweißgebadet. Aber alles ist gut gegangen. Abends war ich hier mit einer Kollegin aus: erst essen und dann in ein Café in der Südstadt, wo man sitzen und reden kann. Ich habe ihr von dir erzählt. Sie hat aufmerksam zugehört, wie man einer ungewöhnlichen Geschichte eben zuhört (sie hat keine Ahnung von Golf). Ruth, so heißt sie, hat vor allem nicht verstanden, warum es "so kompliziert" sein muss. Ich versuchte es ihr zu erklären: also nicht, warum es kompliziert sein muss, sondern warum es ist wie es ist und dass es ganz unkompliziert ist, wenn man sich an die Spielregeln hält, nicht wahr? Ich hatte den Eindruck, dass sie mit ihren Männern schon gleich nach ein paar Stunden oder Tagen in die Kiste ist. Ich will das nicht verurteilen oder für mich ausschließen (du verstehst schon). Aber wir haben uns für diese besondere Art der Annäherung entschieden. Und das ist etwas, was ich mir nicht gerne nehmen lassen will. (Auch wenn Ruth später noch hinzugefügt hat, das höre sich für sie nach einer Art von Gefangenschaft an.- Na ja, so kann man das auch sehen!)
Ich glaube, das solltest du wissen, wenn ich dir jetzt sage, dass ich zuhause war, als du zu meiner Wohnung gefahren bist. Es ist mir ähnlich ergangen wie dir: nur dass ich den Dienst absagen musste, weil mir in der Nacht übel war und ich mich am frühen Morgen noch übergeben hatte. Später war ich beim Arzt, aber es schien nichts Ernstes. Dann bin ich nach Hause, habe auf dem Weg ein paar Kleinigkeiten (Tee, Zwieback, etwas Brühe) eingekauft und mich ins Bett verkrochen. Als ich aufwachte, ging es mir besser. Ich machte mir einen Kamillentee, aß ein paar Zwiebäcke. Dann hörte ich die Kinder draußen und bin ans Fenster. Ich wollte schon wieder zurück an den Küchentisch, als ich den fremden Wagen vor dem Haus sah. Du fährst einen roten Cruiser, nicht wahr? Très chique!!! (Ich rätsele nur, wie du darin deine Golfsachen verstaust.) Du saßest hinter dem Steuer. Ich hab dich gleich erkannt.
Seit einiger Zeit frage ich mich, warum ich nicht früher ein solches Spiel gespielt habe. Viel früher. Aber es war deine Idee (sie war Klasse! einfach Klasse!). Und natürlich gehören zwei dazu, die zur gleichen Zeit bereit sind für so etwas. Mir ist nun, als würfe ich mein ganzes Leben in die Waagschale dieses Platzes, den ich mit dir zusammen spiele. Ich habe immer viel gearbeitet, ja geschuftet, um dahin zu kommen, wo ich jetzt bin: Ich wollte unabhängig sein, frei, ungebunden. Ich wollte die Welt sehen und weg aus einem kleinen Winzerort in der Südpfalz. Ich wollte am Steuer einer möglichst großen Maschine ganz nach oben, wo die Freiheit so grenzenlos schien... Und jetzt will ich nur noch auf der Erde gebased sein. Ich will endlich meine Ruhe finden, an einem guten Ort, mit einem Menschen, der mich liebt. Ich will kein Gefängnis, aber diese Freiheit über den Wolken, das ist es nicht mehr. Manchmal habe ich gedacht: wenn er mir sagt, ich solle zu ihm kommen, was werde ich dann tun? Wie oft hatte ich dich vor Augen, als du deinen Ball geschlagen hast. Dein Gesicht im Profil, unmittelbar neben mir. Als ich dort am Fenster stand, hat mein Herz einen riesigen Sprung getan. Ich habe gejauchzt vor Freude und war schon auf dem Weg zur Tür. Aber dann hielt ich inne, irgendetwas ließ mich zögern, ich überlegte, ob ich nicht lieber das Fenster öffnen und dir zuwinken sollte. Doch da wusste ich schon, dass ich nichts dergleichen tun würde.

A.

PS: Einen 3-Meter-Putt habe ich dir gelassen. Das ist keine Kleinigkeit. Und ich habe jetzt englischen Tee im Haus.

Sag mir, was wir tun sollen. A.

 


31 [8. September 2001]

Liebe Amélie,

obwohl ich seit vielen Jahren Pilot bin, beschleicht mich immer noch die Sorge des Anfängers, die Maschine nicht in der Luft halten zu können. (Als ob es allein auf den Piloten ankäme!) Heute gelang mir auf dem Platz der längste Drive meines Lebens, an die 270 m. So weit war ich noch nie. Wow! Und trotzdem, noch während ich den Ballflug verfolgte (es war am Ende kaum mehr möglich, diese Länge), konnte ich meine Urangst nicht abschütteln: dass er doch nur lange genug in der Luft bliebe; dass er noch und noch und noch ein wenig länger in der Luft bliebe! Aber es mag sein, dass wir einfach so sind. Alle, meine ich.

Herzlich
J.

PS: Habe schon heute gespielt, weil ich bis Donnerstag in den Staaten bleibe und weiß, dass du zweimal Helsinki machst. Am Dienstag übernehme ich wieder einen Inlandsflug (N.Y.- San Francisco). Ich springe für Bert ein, der mit seiner neuen Flamme von den Singapore Airlines auf die Bermudas düst. Allerdings tu ich's nicht mal ungern, weil ich praktisch über Tomcaville und unsere hauseigenen Weizenfelder fliege (na ja, jedenfalls so gut wie). An meiner Vorfreude merke ich, wie ich daran hänge - und an unserem guten alten Golfplatz. - Was wir tun sollen, fragst du. Schön wäre es vielleicht, dort in Tomcaville einmal zusammen Twosome zu spielen (wirklich zusammen, meine ich). Wie wär's: hättest du Lust?

 



32 [11. November 2001]


Lieber Johnny,

ich weiß nun, dass der Mensch Ordnung halten soll in seinem Leben. Alles muss seinen Platz haben, seinen Alltag. Auch glaube ich nicht mehr, dass wir in all diesen Ordnungen gefangen sind: wir können sie nur nicht durchbrechen. Ich habe mir ein weißes Kleid gekauft. Wahrscheinlich ist es der Inbegriff von Kitsch, noch dazu dieses Weiß, das sonst gar nicht meine Farbe ist. Eigentlich ist es mehr cremefarben (das klingt wie eine Entschuldigung, aber du weißt schon, wie ich das meine). Es ist aus festem Leinen, ein Kleid in Etuiform, so streng und wenig sportiv…, und als ich mich im Spiegel ansah, sagte die Verkäuferin: "Man sieht gleich, dass sie so was gut tragen können. Auch zu ihrem Haar." Da habe ich verlegen gelacht. Denn mein Haar ist etwas grau geworden. Sicher hat sie mir schmeicheln wollen. Aber dann hab ich's gekauft, weil ich will, dass du mich in diesem Kleid siehst. Zugleich hab ich große Angst vor diesem Augenblick. Heute werde ich auf unseren Platz gehen, in diesem Kleid, und unser Spiel zu Ende spielen. Wir haben unsere Idealrunde nicht geschafft. Aber ich bringe dir heute deinen Ball zurück. Das wird der Moment sein, in dem die ganze Welt für uns enthalten ist. Jedenfalls wünsche ich mir das.

Deine Amélie

 

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