Lesen:
Vereinigungsnacht
Eine erotische Geschichte.
[In:
Bettina Hesse (HG.) Kein Herz, das mehr geliebt. Geschichten von Verführung.
Rowohlt Verlag. Reinbek. 2002]
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Bis
zuletzt hatte ich gehofft, irgendwo auf Frederike zu stoßen. Aber es war
vergeblich. Ich aß an einem Imbissstand und war kurz nach 21 Uhr im Hotel,
wo rege Betriebsamkeit herrschte. Als ich auf dem Zimmer war, bestellte
ich eine Flasche Bordeaux und später noch etwas Obst, weil mir die Bratwürste,
die ich gegessen hatte, schwer im Magen lagen. Der junge Mann vom Etagenservice
brachte in einer Schale Äpfel, Birnen und Weintrauben und erwähnte nebenbei,
dass aus Anlass der Vereinigung auf der Dachterrasse um Mitternacht Champagner
serviert werde...
Er sagte wirklich Vereinigung. Ich antwortete, als sei eine Entschuldigung
nötig: Mir sei nicht wohl. Er bedauerte, ich dankte und war allein.
Da
ich mich insgesamt etwas ernüchtert fühlte, rückte ich einen Sessel in
die Zimmermitte, mit Blick auf den Fernseher, stellte den Bordeaux daneben
und das Obst in Reichweite, streifte die Schuhe ab und legte die Beine
auf den zweiten Sessel. Dann probierte ich die Programme durch. Alle deutschen
Sender beschäftigten sich mit der bevorstehenden Vereinigung. Ein Schwerpunkt
entwickelte sich somit wie von selbst.
Das
Telefon läutete.
Ja?
Hier ist die Rezeption, Rio Orsini. Entschuldigen Sie, wenn ich störe...
aber da ist eine junge Dame, die zu Ihnen will. Sie sagt, sie ist Ihre
Tochter... ?
Ja?
Das musste schon erwartungsvoll geklungen haben.
Dann kann ich sie hochschicken?
Ja!
Ich
erwartete wirklich, Frederike zu sehen. Zwar hätte ich nicht im mindesten
erklären können, wieso eine Frau, die in meinem Alter war, als meine Tochter
angekündigt wurde - aber ich ging ohne lange nachzudenken davon aus, dass
es Frederike gelungen war, sich als meine Tochter auszugeben und dass
sie heute sehr gut und sehr jung aussehen würde, sodass ihr der Portier
nur ein wenig schmeichelte, wenn er sie in die mittlere Teen-Kategorie
steckte.
Selbst als ich erwartungsvoll die Tür aufriss und eine weibliche Gestalt
vor mir stand, glaubte ich im ersten Moment, Frederike vor mir zu sehen
- so wie ich sie noch nie gesehen hatte: nämlich um mehr als zwanzig Jahre
jünger. Die Zeit ging seltsame Wege. Das waren in Katzengrau ihre Augen,
die mich prüfend anschauten, mit dem Blick der skeptisch gewordenen Genossin
- wie bei unserer legendären Begegnung im Kopierraum der Bezirksverwaltung,
als der erste ostdeutsch gewordene Toshiba SK 1129i auf mich zur allgemeinen
Einweisung wartete. Das war das längliche Gesicht mit dem breiten, so
leicht formbaren Mund, über dem eine schwer kontrollierbare Unruhe scheinbar
spielerisch vibrierte.
Dabei war Janina jetzt schon fünf Zentimeter größer als ihre Mutter und
weiß Gott nicht dürr oder mager. Aus großvolumig das Gesicht umrahmenden
schwarzen Locken waren tausendfach gequirlte Löckchen geworden, schulterlang
und Engelchen-blond. Es wirkte wie ein Kulturschock auf mich. So als wäre
sie eine Replikantin, ein Versuch, Frederike noch einmal herzustellen,
wobei die Einzelteile in verschiedene Richtungen auseinandergelaufen waren.
Ja?
Sie hielt den Mund ein wenig geöffnet, für die Frage, die sie sich überlegt
hatte: Kann ich reinkommen, bitte?
Und wirklich, der Satz schob mich einen Schritt ins Zimmer zurück und
schuf Platz, damit sie eintreten konnte.
Janina?
Ich fragte mit großem Nachdruck, weil ich immer noch nicht begriff, warum
da nicht Frederike vor mir stand.
Janina lachte mit ihrer piepsigen Micky Maus-Stimme: Klar! sagte sie und
wirbelte rein.
Unter einer blauen Windjacke trug sie einen gerade geschnittenen kurzen
Jeansrock. Mit der linken Hand hielt sie eine Art Sporttasche, vermutlich
aus einem dieser Plastegewebe. Die Rechte streckte sie mir etwas hektisch
entgegen: Hallo!
Ich fasste sie, feuchtes, junges Fleisch, und war besorgt: mir kamen einschlägige
Märchen in den Sinn, wo nicht selten der Überbringer schlechter Nachrichten
schlecht behandelt wurde - war Janina geschickt worden, um eine schlechte
Nachricht zu überbringen? Und welche Strafe konnte sie dafür erwarten?
Ist was mit deiner Mutter? fragte ich.
Janina lachte zwar, schien aber nicht erfreut über die Frage: Nein.
Hat sie dich geschickt?
Wieso? Sie verabschiedete das Lächeln endgültig nach Sibirien: Nein! sagte
sie: Komische Idee!
Dann ist sie auch da?
Ich fragte es mit unterdrückter Stimme, aber ich wusste, dass sich die
naive Hoffnung in meinen Augen selbst verriet.
Wo?
In Berlin?
Nicht dass ich wüsste!
Das wurde so kurz und knapp abgetan, als hätte sie schon mit sich selbst
beraten, dass jedes Wort zu diesem Thema ein Wort zuviel wäre. Sie schaute
sich im Zimmer um, warf dann wieder einen prüfenden Frederike-Seitenblick
auf mich, der mein Herz einen beglückenden Schlag lang aussetzen ließ.
Es war, als müsse sie sich darüber klar werden, ob Zimmer und ich zusammenpassten.
Dann schüttelte sie energisch den Kopf, sodass sich das Engelshaar von
ihren Gesichtszügen löste, eine Sekunde frei im Zimmer rumflog und wieder
zurückkehrte. Es war jedoch kein Ausdruck der Missbilligung, sondern eine
Geste des Ankommens, der zustimmenden Inanspruchnahme, so wie Hunde sich
schütteln, wenn sie von draußen ins Warme kommen.
Dann verstehe ich das nicht! sagte ich, obwohl ich langsam zu verstehen
begann.
Was verstehst du nicht?
Man sah ihr an, dass sie das jetzt nicht lange diskutieren wollte. In
einer dem eigenen Körper gegenüber achtlosen Bewegung zog sie die Jacke
runter und warf sie, den Mittelfinger als provisorischen Haken in den
Aufhänger gesteckt, über die Schulter. Die andere Hand puffte sie angriffslustig
in ihre geschmeidige Hüfte. Jetzt war sie zu klären bereit, was es in
ihren Augen zu klären gab, und schickte mir einen schnellen Routineblick,
so wie man beim Autofahren regelmäßig in den Rückspiegel sieht, um auf
mögliche Gefahren früh genug reagieren zu können.
Ich
hatte begonnen, die Bewegungen ihres Körpers genauer zu beobachten - und
das bekam sie bei diesem schnellen Routineblick spitz.
Was bisher von noch kindlicher Spontaneität angetrieben war: nichts als
simple, durch äußere Reize ausgelöste Reflexe wie bei einem Flipperspiel,
wurde nun, ausgelöst durch die federleichte Berührung mit dem Zauberstab
einer geheimnisvollen Fee, übergossen vom glitzernden Sternenstaub des
Wissens um die atemnehmende, Herzschlag aussetzende, sprachlähmende Wirkung
ihres eigenen Körpers.
Ihre
Hand, die gerade eben noch ungezwungen über der Schulter lag, hatte nun
etwas unerklärlich Wissendes. Der Mittelfinger, gerade eben noch nichts
anderes als ein Nothaken, schien jetzt in dieser bewussten Haltung seltsam
befangen, als könne er sich nicht mehr selbst aus seinem Schicksal lösen.
Alles an ihr, was vorher einen neugierigen, frischen, spontanen Eindruck
gemacht hatte, drückte nun eine unbestimmte, ratlose Sehnsucht aus,
die aber doch, so viel schien sie immerhin zu wissen, mit mir zu tun hatte.
(...)
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