Lesen:
Patrizia sagt.
Roman. 180 S., Ammann. Zürich 1989
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Ich
schneide eine Handvoll Schalotten in winzige Würfelchen, dünste
sie in Butter glasig, schön vorsichtig, damit sie nicht braun und
bitter werden, gebe eine reichliche Menge süßer Sahne hinzu,
schmecke ab, mit Essig und Honig, weil gesünder, und lege ein ordentliches
Stück Suppenfleisch bei, das ich zuvor mit einigem Grün habe
garziehen lassen.
Dazu gibt es Kartoffeln, die Franco mit Wonne in die Soße matscht.
Seit dem ersten großen Auftrag, den er mir vor etlichen Jahren zuschanzte,
verlangt er auf einen Teil Fleisch drei Teile Soße und erhält
sie auch.
Frank Galbani ist Inhaber einer Schweizer Künstler- und Werbeagentur.
Er berät mich in geschäftlichen Belangen auf der freundschaftlichen
Basis von zehn Prozent, während ich in der Küche stehe und süß-saures
Zwiebelfleisch zubereite.
Frank ist Franco, denn Patrizia hat irgendwann den Vokal wieder an den
Vornamen angehängt, weil Francos Familie einmal aus der italienischen
Schweiz ins behäbige Zürich gezogen war und weil sein nachtblaues
Haar ebenso wie sein römisches Profil den Vokal einfach mitrollen
ließen.
Franco jedenfalls riet mir beim letzten Zwiebelfleischessen, den Auftrag
eines etwas heruntergekommenen Magazins anzunehmen. Um neue Autoren anzuwerben,
zahle es im Moment recht gut.
Er sagte das am Küchentisch, wo er am liebsten saß und Patrizia
dabei zusah, wie sie das Fleisch in mundgerechte Streifen schnitt. Patrizia
fragte nach Rosa und den Kindern, und während Franco das Neueste
erzählte, erklärte er nebenbei die Bedingungen.
Beim Essen wurde nicht über Geschäfte gesprochen. Später,
als Patrizia ihr Bongo hereinbrachte, bekamen zuerst
die Kinder, damit sie zu Bett konnten. Franco, ein Leckermaul, nahm sich
selbst von der Biskuithalbkugel, die mit einer Sahnefüllung handfest
gemacht, mit Schokolade überzogen und halbgefroren wird.
Nach einer Weile sagte Patrizia: Mach's doch! Es ist ein idiotisches Thema,
aber wenn die so viel zahlen: Wir könnten's gut brauchen! Am Ersten
steht die Mieterhöhung an und im Herbst die Reise nach Montecatini.
Franco nahm erneut von dem Bongo, lehnte sich zurück und pflichtete
ihr bei.
Ich dachte an den vertrackten Staffelmietvertrag, den wir unterzeichnen
mussten, um das Haus mit dem schönen alten Garten zu bekommen. Er
bescherte uns jetzt Jahr für Jahr Mieterhöhungen. Zudem ärgerte
mich der Mangel an Feingefühl, der Patrizia einem Fremden gegenüber
von Geldsorgen sprechen ließ. Franco war ein Freund, aber er war
dem Wesen nach auch ein Haussier, und mein Ansehen konnte Schaden nehmen,
wenn er den Eindruck haben musste, schon die finanzielle Ausstattung eines
Auftrags könnte mich zur Annahme bewegen.
Doch schluckte ich den Ärger mit dem Rest des Halbgefrorenen, den
ich mir auf den Teller kratzte. Patrizia verdiente, über den Daumen
gepeilt, siebzig Prozent unseres Etats, und wir hatten uns irgendwann
geeinigt, dass mir Empfindlichkeiten in finanziellen Dingen nicht gut
anstehen würden. Das war noch zu einer Zeit gewesen, als mein Beitrag
zum Familieneinkommen darin bestand, die Steuerprogression zu mildern.
Patrizia ist leitende Angestellte einer Bank.
Ich weiß nicht, wie der Abend ausgeklungen ist. Franco bringt in
der Regel mehrere Flaschen mit, ist dabei trinkfest wie seine Vorfahren
und hat, wie es scheint, eine unempfindliche Leber. Jedenfalls wurde das
Thema am nächsten Morgen nicht mehr berührt. Franco musste weiter
nach Düsseldorf, wo seine Geschäfte warteten.
Er trank schwarzen Kaffee und aß einige Butterhörnchen, die
unser Bäcker sehr lecker zu machen versteht. Man muss nur früh
genug in der Backstube stehen und sie selbst holen. Man legt das Geld
auf ein Fenstersims, und der Meister, ein rundliches Männchen in
Unterhemd und Backschürze, schüttet die goldfarbenen, noch heißen
Halbmonde eigenhändig vom Blech in den Einkaufskorb.
Franco vor seinem BMW. Wie immer gibt es eine ausgedehnte Abschiedszeremonie.
Die Kinder müssen ihren Kuss kriegen, bevor sie zur Schule radeln.
Patrizia, im dunklen Bankkostüm, wird schon zu spät kommen.
Trotzdem umarmt sie den um zwei Jahre Älteren wie eine neapolitanische
Mamma, streicht ihm liebevoll durchs Haar, küsst seine Wangen und
gurrt: Tschau, Franco! bevor sie in ihr Stadtwägelchen steigt und
zur Arbeit fährt.
Dann stehen wir noch, leicht verlegen, geben uns die Hand, erst eine,
dann eine weitere, Franco greift meinen Ellenbogen, drückt ihn und
sagt:
Das Zwiebelfleisch war exzellent!
Dabei schnalzt er so mit seiner Zunge, dass ich abwinken muss: Aber nichts
gegen den Wein!
Franco fährt los, und ich überlege, was für einen Auftrag
ich mir eingehandelt habe. Seit mehr als zehn Jahren habe ich den großen
Roman im Kopf und versuche, mich an ihn heranzuschreiben.
Patrizia sagt: Du willst ihn dir aus den Fingern saugen! und meint damit,
das sei die falsche Methode.
Aber zwischen Zwiebelfleisch, Kindern und Brotarbeiten
für bedürftige Zeitschriften werde ich nie zu dem großen
Roman kommen.
Also. Über ein Schriftstellerleben. Idealtypisch kann
es sein oder von lügnerischem Realismus. Oder beides. Nur gut muss
es sein, denn es wird gut bezahlt. Fünfzehn Seiten, dreißigtausend
Anschläge oder mehr, auf einer alten Olympia, vor Jahren geliehen,
um ein Gedicht ins reine zu bringen, seither nicht mehr wegzudenken.
Es reicht, um die Mieterhöhung auszugleichen, vielleicht für
die Reise nach Montecatini im Herbst...
Was sich anbahnt: kein Roman, keine Erzählung, nicht einmal eine
richtige Geschichte. Und doch will ich einen Anfang wie für eine
richtige Geschichte, will ein Herkommen, auch wenn das altmodisch ist,
auch wenn niemand mehr auf die Idee kommt, Geschichten oder was so zu
eröffnen. Man soll erfahren, wo ich herkomme, und schon gleich zu
Beginn Einblick haben.
Ich leite ein, indem ich behaupte, als Schriftsteller sollte
man aus der trendbestimmenden Schicht der gutsituierten Angestellten,
höheren Beamten und erfolgreichen Freiberufler stammen - schon
um sie beschreiben zu können. In der DDR mag es anders sein, bei
uns wird ein Schriftsteller, der aus dem Proletariat wächst oder
bäuerliche Vorfahren hat, zunächst schwarze Fingernägel
und Stallgeruch ablegen müssen. Natürlich gelingt ihm das nicht,
sollte ihm nicht gelingen, da es, in literarischer Form, seine Chance
ist.
Ich stelle mir vor, das zweite von vier Kindern eines Medizinalprofessors
zu sein: Der Bildungshintergrund erleichtert die Eingewöhnung in
die künstlerische Sphäre, er wird eingeimpft, transplantiert,
wenn nötig anerzogen bis zum Exzess, der eine nervöse, dünnhäutige
Empfindsamkeit gebiert - eben die Voraussetzung für den Beruf, der
davon lebt, die Schuppen dieser trockenen Haut abzuwerfen und zu verkaufen.
In der Pubertät, spätestens, wird man mit dem Elternhaus die
ebenso verhasste Bildung ablehnen und an der eintretenden Vereinsamung
erkennen, dass sie existentiell sein wird, eine zweite Notwendigkeit für
den Beruf. Die erste bewirkt, dass man etwas zu sagen hat, die zweite,
dass man es aufschreiben muss, denn andere Kommunikationsformen stehen
in angemessener Weise nicht zur Verfügung.
In
diese Zeit fallen meine ersten literarischen Versuche, ödipale Variationen,
die ich mit Vorliebe meinem Vater vorlegte, theoretische Obsessionen über
ein praktisch kaum zu bewältigendes Problem.
Das Thema blieb. Auch heute, viele Jahre danach, wird meine weitere Arbeit
dadurch geprägt sein, dass ich mir keinen noch so geringen Anteil
am Tod meines Vaters zurechnen konnte. Für die literarische Verwertung
des eigenen Lebens ein unbefriedigender Zustand. Denn Schuld kann vor
allem dann ein Movens arte sein, wenn sie zweifelhaft und somit nagend
ist.
Im übrigen war, seitdem ich verschiedene Schulen, Internate und Kollegien
besuchte, seit dem sechsten Lebensjahr also, meine Antwort auf die dumme
Frage nach dem Berufswunsch, auf das vertrauliche:
"Was willst du denn mal werden?"
Schriftsteller!
Dumm, weil man erwartete, ich werde wie die anderen antworten: Lokomotivführer!
Oder: Rennfahrer!
Dumm zudem, weil kein Wunsch, sondern Bestimmung vorlag: weil, sofern
wir Durchschnittsmenschen, die Existenzbedingungen festgelegt sind.
Von den Kindern eines Arztes wird eines Medizin studieren müssen,
so wie der größte Teil der Hauptschülerinnen zur Verkäuferin
oder Tippse bestimmt ist.
So ohne weiteres, sagt Patrizia, lässt niemand seine Klasse hinter
sich.
Mir
war mein Schicksal zugewiesen. Ich nahm es, wie die meisten, an. Ich wusste,
was ich wollte, wollte nie etwas anderes und sah zeitlebens keinen Grund,
etwas anderes anzugeben.
Ich will es mit der Wahrheit genau nehmen (selbst, wenn eine Nachlässigkeit
in diesem Fall unbemerkt bliebe). Wahrscheinlich sagte ich nicht: Ich
will Schriftsteller werden!
Betrachtet man die Sprachentwicklung, so wird man erkennen, dass dem Begriff
zu dieser Zeit, Ende der vierziger bis Mitte der fünfziger Jahre,
eine abfällige Bedeutung zukam. Er bezeichnete einen Verfasser von
literarischen Werken, der ausgebildete stilistische und gedankliche Fähigkeiten,
ein Talent, besitzt, aber keine eigentliche Wesensschau und sprachkünstlerische
Bedeutsamkeit. Diese waren dem Dichter vorbehalten. Es gab viele Schriftsteller,
eine Art Unterbau, und wenige Dichter. Befangen in der Zeit und mit dem
Bewusstsein des Kindes muss es demnach geheißen haben: Dichter!
Ich will ein Dichter werden!
Noch auf dem Gymnasium war ich der einzige Professorensohn
in meiner Klasse. Regelmäßig zwischen Neujahr und Ostern
bekam ich zwei zusätzliche Wochen frei, um die Familie ins Tessin
begleiten zu können. Dort besaßen wir ein Haus, eine Sommerfrische,
wie Mutter es nannte.
Von Mutter wird nicht viel zu hören sein. Sie hielt sich meist im
Hintergrund, ein kleines, immerblasses, stilles Wesen. Vor ihrer Heirat
hatte sie Klavierlehrerin werden wollen. Ein Foto zeigt sie sehr aufrecht
und distinguiert auf ihrem Schemel, die schmalen Hände über
den Tasten, bereit, wie es scheint, zu gesteigertem Ausdruck, dabei unerhört
jung und vor der erdrückenden Wucht des Instruments erst recht blutarm
und unscheinbar. Zu heiraten und vier Kinder zu gebären, das schien
eins gewesen zu sein. Für die Erziehung zu sorgen, sie zumindest
zu beaufsichtigen, und das große, stetig wachsende Haus zu führen,
das andere. So
sehr ihre Arbeit auch zunahm, ahnte man Mutters Gegenwart mehr, als dass
man sie wirklich zu Gesicht bekam. Sie wurde, im wahrsten Sinne des Wortes,
zum guten Geist des Hauses, bis wir sie, in späteren Jahren, als
Menschen von Fleisch und Blut kaum mehr wahrnahmen.
Im
Tessin, in Morcote, einem Dörfchen am Luganer See, dort, wo die Landzunge
am weitesten in den See hineinreicht, erwartete mich eine umfangreiche
Bibliothek, schwere Leder- und Leinenbände, zum Teil schon von Großvater
gesammelt. Wir hatten ein Dienstmädchen aus dem Dorf, das sie abstauben
musste. Ich bedauerte die junge Frau, mir kamen die Reihen endlos vor.
Aber als ich etwas sagte, lachte sie nur.
Vater nahm hier meinen Unterricht selbst in die Hand. Beim Latein überließ
er mich noch den Methoden traditioneller Schuldidaktik: dem Studium kriegerischer
Auseinandersetzungen. Ich übte ein altes Handwerk, lernte Operationsgebiete
zu erfassen und konventionelle Kriege zu führen. Anders beim Griechischen.
Dort heilten die Wunden, die beim Lateinunterricht geschlagen wurden.
Vater legte mir medizinische Schriften von Hippokrates
bis Galenos vor. Ich zitierte aus den Studien über WINDE, WASSER
UND ÖRTLICHKEITEN und nannte die Säfte des Körpers im richtigen
Verhältnis, so dass eine brauchbare Humoralpathologie herauskam.
Erst später, als ich Medizin studierte, um mir Vaters monatlichen
Scheck zu sichern, erfuhr ich, dass die phantasievolle Lehre von den körpereigenen
Säften und den Krankheiten, die durch eine falsche Mischung derselben
entstehen, schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Cellularpathologie
des schivelbeinschen Pommern Virchow abgelöst wurde. Diese bildete
bald die Grundlage der (literarisch unergiebigen) neuzeitlichen Anthropologie.
Bei Virchow zählte eher, dass er es fertiggebracht hatte, sowohl
ein Gegner Bismarcks zu sein als auch, in seiner Eigenschaft als Vorsitzender
der liberalen Fortschrittspartei, gegen die Pfaffen vom Leder zu ziehen.
Mir gefiel das sehr.
Ich erinnere mich an Auseinandersetzungen mit von Roggendorff, einem Freund
der Familie, der im Vorstand eines Büromaschinenkonzerns saß.
Wenn ich zu Beginn der sechziger Jahre in die gesellschaftsferne Villa
vor der Stadt zurückkehrte, verstand er es, mich zur Weissglut zu
bringen.
Ich studierte Soziologie und Linguistik sowie, zähneknirschend, mit
beträchtlicher Anstrengung, besagte Humanmedizin und sprach von der
Lernfähigkeit des Proletariats. Von Roggendorff antwortete mit folgendem
Beispiel:
Man hatte, "ein Schritt in eine humane Arbeitswelt",
den Takt am Fließband neu geordnet und auf zweiunddreißig
Handgriffe in vier Minuten verlängert. Als nach der Einarbeitungsphase
die Frauen befragt wurden, wollte die Mehrzahl in die stupidere Arbeitsorganisation
zurück, weil, so die Begründung, die ich nicht anerkannte, eine
einfache Arbeit einfacher zu tun wäre als eine qualifiziertere.
Ich sah nicht ein, dass Fortschritt Angst machen konnte, oder wollte es
nicht. Wahrscheinlich, weil ich ahnte, dass der Fortschritt, den ich damals
im Hals trug, ebenso diktiert werden würde wie derjenige, den die
Arbeiterinnen auf dem Weg in eine humane Arbeitswelt hinnehmen
mussten.
Patrizia war die beste aller Frauen, die für mich in Frage kamen.
Es mag geistreichere gegeben haben, sicher attraktivere und manchmal Frauen,
die sich auf beides verstanden: geistreich und attraktiv zu sein.
Doch sie eigneten sich nicht für einen Schriftsteller.
Verliebe ich mich, so überlege ich, ob die andere Frau soviel bieten
könnte wie Patrizia. Ich vergleiche nicht äußere Merkmale.
Das Alter oder die Körpermasse, die Haarlänge oder die Farbe
der Augen sind ohne Belang. Ebenso spielen die inneren Werte keine wesentliche
Rolle, da sie erst einmal erkannt werden müssen. Zumeist ein langwieriger
Vorgang und unzuverlässig, weil die vielfältigen menschlichen
Bedürfnisse und Gefühlsweisen unsere Bewertungskriterien von
heute auf morgen umstürzen können.
Ich suche bei einer Frau Einfühlungsvermögen in die Situation,
Einverständnis mit dem Werk und finanzielle Sicherheit und musste
erkennen, dass mir niemand so viel bieten konnte wie Patrizia. Also verzichtete
ich, widerstand, wo es ums Ganze ging, der Anziehungskraft gewisser Details
und blieb.
Zurückhaltend und etwas unterkühlt könnte man sagen: Es
ist wahrscheinlich, dass wir uns lieben. Das ist nur sehr ungefähr,
aber man mag sich damit behelfen.
Patrizia hingegen fürchtet keine literarischen Implikationen
und sagt einfach: Ich bin deine Frau!
Sie meint, damit ist alles gesagt.
Mir wird dann immer ganz flau, und ich wende vorsichtig ein:
Das ist zu banal! und wenn ich es grundsätzlicher anpacken will,
füge ich hinzu: Du definierst dich falsch!
Aber Patrizia rümpft bloß die Nase: Ich definier' mich nicht!
Ich bin ich!
Sagt sie und besteht darauf. (...)
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