Lesen:
Knickerbocker

aus: Die Liebe am Nachmittag. Liebesgeschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Ich hatte mich in Giovanna verliebt, wusste aber, dass ich nur über ihre Großmutter an sie herankommen würde. Von der Existenz der Nonna erfuhr ich durch Zufall: ich sah, wie sie mit zwei ihrer Enkelinnen, darunter Giovanna, meine Giovanna, über den Rathausplatz ging: ungebeugt und füllig, gut gekleidet und mit hoheitsvoller Miene.

Ich grüßte sie ehrerbietig, obwohl ich sie nicht kannte, und nickte sodann den beiden jungen Frauen zu, obwohl ich sie im Grunde auch nicht kannte. Giovanna ignorierte meinen Gruß, aber ihre jüngere Schwester schaute mich neugierig an und lachte albern zurück.
Ich sah noch, wie die Alte einen langen fragenden Blick auf Giovanna warf, der in etwa besagte: 'Ist da etwas, was ich wissen sollte, mein Kind? Ich verstehe zwar, dass es Dinge gibt, die man nicht dem Papa oder der Mama auf die Nase bindet. Aber zu wem willst du gehen, wenn es mal wirklich brenzlig wird? Also lass dir nicht zuviel Zeit damit. Ich warte nicht gerne!'

Giovannas Eltern führten einen Schneidersalon, der sich in den zwanzig Jahren, die sie in der Stadt lebten, von einer Flickschneiderei, wo Ärmel und Hosenbeine gekürzt wurden, zu einem Geschäft für maßgefertigte Herrenmode entwickelt hatte. Irgendwann passte der Kleinkram nicht mehr zum Ansehen des Hauses Riccione & Riccione, und so waren die Änderungsarbeiten ausgelagert worden, in einen kleinen Laden am Ende der Rathauspassage. (Der zweite Name gehörte einem lombardischen Bruder, der Geld gegeben hatte, aber lieber im sicheren Mailand geblieben war.)

Natürlich lebte das Geschäft nicht von der rheinischen Kleinstadt, in der es ansässig war. Vielmehr stand die unauffällige Eleganz der angebotenen Kleidung im krassen Gegensatz zum kleinbürgerlichen Publikum, das geprägt war von geringelten Sportsocken, Jeans und T-Shirts mit buntem Aufdruck. Alles war eine Spur zu grell, zu jugendlich, zu eng oder zu groß. Und selbst wenn man sich teure Fummel leistete, wirkten sie letztlich schäbig, denn in der Bergbau- und Industriestadt hatte es nie hinreichend Gelegenheit gegeben, so etwas wie Eleganz auszubilden und selbstbewusst zur Schau zu tragen. Seit jeher war man damit geschlagen, keinen Geschmack zu haben.

Das setzte sich in allen Lebensäußerungen fort: reichte von den öffentlichen Bauten bis zum Wahlverhalten. Trotzdem hatte Signor Riccione vor vielen Jahren für seine Familie entschieden, dass man auch in dieser Stadt würde leben können. Dazu benötigte das Geschäft der Riccione & Riccione freilich einen weiten Einzugsbereich: im Umkreis von zweihundert Kilometer rechnete es vor allem mit zu einigem Wohlstand gekommenen Landsleuten.

Die meisten seiner italienischen Kunden hatten als einfache Gastarbeiter angefangen, sich dann aber selbständig gemacht, als Händler oder Restaurantbesitzer Erfolg gehabt und einiges Geld verdient, das sie sinnvoll ausgeben wollten. Bald schätzte man in den rheinischen Kolonien der Italiener den Namen Riccione & Riccione, und ein Anzug, den man dort fertigen ließ, wurde durchaus als sinnvolle Ausgabe angesehen, als äußere Eintrittskarte in die bessere Gesellschaft und als Bindeglied an die Heimat. Das Geschäft lief gut.

Ich hatte Giovanna, die normalerweise im feineren Modesalon arbeitete, durch einen Zufall in der Änderungsschneiderei gesehen, wo ich eine neue, pflegeleichte Hose kürzen lassen wollte. Schon am nächsten Tag war ich wiedergekommen, um nach der Hose zu fragen, obwohl sie noch nicht fertig sein konnte.

Die Frau, die mich bediente, eine Tante Giovannas, hatte gesagt: Eine Woche!

Wobei sie Schwierigkeiten mit dem ch hatte. Doch obwohl sie diese Schwierigkeiten schon ihr halbes Leben lang gehabt haben mochte, konnte sie noch darüber lächeln: zog den rot geschminkten Mund in die Breite und die schwarz gestrichenen Brauen in die Tiefe, sodass für einen Augenblick - bis sie ein formvollendetes 'Signore!' anhängte und ihr Gesicht wieder in neutrale Form brachte - ein warmherziges Clownsgesicht zustande kam.

Die Ricciones waren eben eine formvollendete, eine freundliche und vor allem eine weitverzweigte Familie. Die Frauen neigten zu Übergewicht, die Männer zu Magersucht, und die Kinder trieben bis zu ihrem zwölften Lebensjahr mehrfach von einer Seite zur anderen.

Die Tante hatte erneut gesagt: Eine Woche!

Doch ich überhörte es, überhörte es von Mal zu Mal, erschien Tag um Tag, fragte naiv nach meiner Hose und hoffte, Giovanna anzutreffen - ein Narr, dem, wie es scheinen musste, Zeit und Vernunft zugleich abhanden gekommen waren.

Endlich vertraute ich mich der Tante an, und die entnervte Frau, die mich längst schon in ihr großes lombardisches Herz geschlossen hatte, erzählte mir, dass Giovanna ein paar hundert Meter weiter arbeitete, im Hauptgeschäft in der Fußgängerzone. Im übrigen liebe ihre Nichte belgische Pralinés ebenso wie italienische Fotoromane, Filme mit diesem hübschen amerikanischen Schauspieler und furchtbare Musik!

Sie meinte Richard Gere und Guns N' Roses.

Ich wollte sie umarmen, aber noch ließ sie es nicht zu. Vielmehr riet sie mir, bei Riccione & Riccione ein paar Knickerbocker nach Maß anfertigen zu lassen und zu dunklen Hosen keine Tennissocken mehr zu tragen.

Am nächsten Tag besuchte ich das Hauptgeschäft in der Fußgängerzone. Vor dem Eingang standen zwei Lorbeerbäumchen in beweglichen Kübeln. Es gab ein kleines und ein größeres Schaufenster, in denen Anzüge mit und ohne Weste ausgestellt waren, mit einer oder zwei Hosen. Daneben lag jeweils der Stoff ausgebreitet, aus dem sie gefertigt waren, und vor den Ballen mit englischem oder italienischem Tuch befanden sich winzige Kärtchen, auf denen diskret der Preis mitgeteilt wurde.

Dennoch betrat ich das Geschäft und verlangte ein Paar Knickerbocker nach Maß. Der Auftrag war so ungewöhnlich, dass, wie die Tante vorausgesehen hatte, Signor Riccione selbst erschien, um sich den Kunden anzusehen.

Er war dünn wie alle Männer der Familie (selbst die angeheirateten hatten sich im Lauf der Jahre angeglichen) und hielt sich auffallend gerade. Seine Hände waren fein, schmal und nervös. Er hatte fast keine Haare mehr, nur über den Ohren wuchsen noch ein paar verlorene Büschel. Doch fiel der Mangel kaum ins Gewicht. Signor Riccione hatte im lombardisch-bleichen Gesicht mit seinen angenehm ruhigen Zügen einen so ungewöhnlich starken Bartwuchs, dass es schon wenige Stunden nach der ersten Rasur des Tages wirkte, als kultiviere er einen Dreitagebart.

Zuerst musterte er meine Kleidung, die in seinen Augen gewiss drittklassig war: die rehbraunen Cordjeans von der Stange, das himmelblaue Polohemd mit rotweißem Strickkragen, vor einigen Tagen im Tchibo-Laden an der Hauptstraße gekauft, sowie eine Jacke aus glänzender Ballonseide mit dem Aufdruck University of Cleveland und einem prächtigen Indianerkopf auf dem Rücken. An den Füßen trug ich bequeme Joggingschuhe und Socken, die sich dem Farbton der Cordjeans zumindest annäherten. Ich hatte mich an die Weisung der Tante erinnert.

Signor Riccione schaute mich an und fragte, ohne dass von seinen kleinen Augen etwas anderes als Gleichgültigkeit abzulesen gewesen wäre: Werden Sie zu den Knickerbocker diese Schuhe tragen?

Ich antwortete, dass ich mir darin noch unsicher sei, aber seinen Rat in dieser Angelegenheit wünschte.
Er nickte und begann mich nun mit überaus schnellen Bewegungen zu vermessen. Ihm zur Seite stand mit einem Mal ein junger, hübscher Bursche von vielleicht fünfzehn Jahren, in einem tadellosen Maßanzug, weißem Hemd und dezenter Krawatte, sodass ich mich neben ihm wie ein Lumpensammler ausnahm. Er wiederholte die Maße und gab die Zahlen, wie mir schien: in deren italienischer Koseform, an ein kleines schwarzes Büchlein weiter.

Signor Riccione bat um meinen Namen und meine Anschrift, die ich ihm beide deutlich buchstabierte. Dann bat er um eine Anzahlung, die bei Knickerbocker üblich sei. Ich stellte einen Scheck aus, und er schien vorerst zufrieden. Die Knickerbocker sollten in vierzehn Tagen fertig sein.
Mit etwas zögerlichen Schritten geleitete mich Signor Riccione zur Tür.
Wenn Sie einen Vorschlag wünschen, sagte er schließlich, so würde ich Ihnen zu Schuhen und Strümpfen nach englischem Muster raten.

Ich versprach seinem Ratschlag zu folgen. Daraufhin wünschte er mir noch einen guten Tag und entließ mich so neutral wie jeden anderen Kunden.
Als ich am nächsten Morgen den Laden betrat, um mich zu erkundigen, ob die Hose schon in Arbeit sei, war Giovanna anwesend, räumte hinter der Verkaufstheke irgendwelche Schubladen aus und beachtete mich nicht weiter. Sie trug einen gar nicht so engen dunklen Rock, der sich gleichwohl bei jeder Schublade etwas höher schob, und eine schlichte weiße Hemdbluse, auf die ihr langes schwarzes Haar fiel.

Zum erstenmal hatte ich Gelegenheit, sie ohne größere Eile zu betrachten, und war schockiert von ihrer unnahbaren Schönheit. Ich fragte nach karierten Wollstrümpfen für Knickerbocker, ohne dass sie reagierte - und ich gab mir reichlich Mühe, auch, um ihre Neugier zu wecken, bei meiner Nachfrage durch umständliche Erklärungen und Entschuldigungen wie ein Idiot zu wirken.

Aber Giovanna blieb strikt bei ihrer Tätigkeit, Schubladen aus- oder umzuräumen, während nun schon eine andere Tante hinzugekommen war und pflichtgemäß bedauerte: Sie sei im Bilde über den Auftrag, auch sei er unverzüglich in Arbeit genommen worden, aber für die Qualität, die Riccione & Riccione anstrebten, benötige man eben etwas Zeit.

Am nächsten Tag wiederholte ich meine Nachfrage und bat darum, die Hose neu zu vermessen, weil ich über kurz oder lang abnehmen würde und daher Sorge hatte, dass die Knickerbocker zu lang gerieten.

Riccione, von der ratlosen Tante zu Hilfe gerufen, fragte verwirrt: Zu lang? Wieso zu lang? Sie meinen sicher: zu weit?
Aber ich erklärte ihm geduldig, dass ich bei Veränderungen des Gewichts ausschließlich größer oder kleiner zu werden pflegte.

In diesem Moment hörte ich ein Aufglucksen, das von Giovanna kommen musste. Ich hatte ihre Stimme nie gehört, war aber sicher, dass sie es sein musste.
Und wirklich, Giovanna kam hinter einem Vorhang hervor, der zu den Nebenräumen führte, und eilte zu ihren Schubladen hinter der Verkaufstheke. Auf ihrer weißen Leinenbluse trug sie eine goldene Brosche: eine Taube mit einem Kirschblütenzweig. Und diesmal warf sie mir einen Blick zu, wie man ihn dem Pizzabäcker von nebenan zuwerfen würde, wenn er versucht, mit drei Teigfladen gleichzeitig zu jonglieren, und ihm alle drei auf den Boden Tageen.

Am nächsten Tag kam ich, um mitzuteilen, dass noch nicht zweifelsfrei geklärt sei, ob ich in Zukunft abnehmen würde. Deshalb sollten die Knickerbocker in der alten Größe gefertigt werden. Zugleich bat ich, die Maße noch einmal nachzuprüfen, und hoffte, dass vielleicht Giovanna ihrem Vater assistieren würde.

Aber da war es schon zu spät. Riccione & Riccione hatten keine Mühe gescheut, die Hose über Nacht fertig zu stellen. Sie passte wie angegossen. Ich nörgelte ein bisschen hier und da, aber so offensichtlich grundlos, dass Signor Riccione einfach abwartete, bis ich still war. Dann nannte er den Preis und ließ die Hose einpacken. Ich bat darum, sie mir zuzustellen.

An der Wohnungstür klingelte dann aber nicht Giovanna, sondern der hübsche Bursche, der Signor Riccione zur Hand ging. Ich knallte das Paket in eine dunkle Flurecke und öffnete es erst zwei Tage später, als die Putzfrau mich danach fragte, weil sie Angst hatte vor Paketen, bei denen sie nicht wusste, was drin war.

Aus den Glenchekkaros der Knickerbocker flatterte eine schmale beigefarbene Karte in den Eimer mit Wischwasser.
Die Putzfrau fischte sie ohne Aufregung heraus und schaute kurz drüber.
Habt da Glück jehat! Mehr als Verstand jedenfalls. Wer käuft sich denn solche Hosen, wa? Is mit Kugel jeschribbe. Wat solln dat heißen?
Ich tupfte behutsam das Dreckwasser ab. Zwei Zellen, noch relativ gut lesbar:

Wenn Sie mich sehen wollen, warten Sie am Rathaus auf mich. Vordereingang. Nach Geschäftsschluss!

Die Karte war nicht unterschrieben, aber mir schien, dass sie leicht und frisch nach jungem Knoblauch, würzigen Basilikumblättern, nativem Olivenöl und zerstoßenen Pinienkernen roch. Dann fiel mir ein, dass der Geschäftsschluss von vor zwei Tagen gemeint sein musste und dass ich nicht auf sie gewartet hatte.

Am folgenden Tag hatte ich auf dem Markt die Nonna mit ihren beiden Enkelinnen getroffen und angenommen, dass Giovanna wütend auf mich war. Von der Nonna unbemerkt, folgte ich ihnen, bis sie in einem älteren Haus verschwanden. Ich prüfte den Namen auf dem Türschild und kehrte drei Tage später, es war ein Sonntag, um die Mittagszeit zurück und klingelte.

Giovanna öffnete und erschrak, als sie sah, dass ich es war. Dann bemerkte sie meine Knickerbocker.
Ich trug sie zu karierten Wollstrümpfen nach englischer Tradition und handgenähten braunen Halbschuhen von Linson & Batches. Ferner hatte ich mir ein pinkfarbenes Dinnerjacket ausgeliehen, von einem Freund, der auf einem amerikanischen Schiff eine Kreuzfahrt in die Karibik mitgemacht hatte, sowie ein türkisgrünes Seidenhemd mit eigelber Fliege.

Giovanna rief nach ihrem Vater.

Als der, sichtlich indigniert, erschien - er war offenbar vom Tisch aufgestanden, Reste der Vorsuppe klebten am gepflegten Schnauzbart, den er sich stets für den Sonntag stehen ließ -, bat ich um Entschuldigung für die Störung, erklärte aber, die Nonna sprechen zu müssen.

Signor Riccione bat höflich darum, ihm zu sagen, was ich zu sagen hätte.
Er nahm wohl an, es müsse etwas mit den Knickerbocker zu tun haben. Aber ich bedeutete ihm durch wildes Gestikulieren, dass nur für die Nonna bestimmt sei, was ich zu sagen hätte, und dass ich zudem nur als Bote vorsprechen würde, der einen Auftrag zu erfüllen habe und sonst nichts.

Schließlich zuckte er verstimmt mit den Achseln, und da er ärgerlich eingesehen hatte, dass die Nonna über etwas Vertrauliches mit mir nicht gut in der Tür sprechen konnte, bat er mich herein.

Ich wusste um die Bedeutung dieser Geste. Ein Italiener, der einem Fremden zur Essenszeit das Haus öffnet, erklärt diesen fast schon zu einem Freund der Familie. Aber ich wollte mehr. Freundschaft interessierte mich nicht. Ich wollte Liebe. Giovannas Liebe!

Die Familie saß vollzählig um den großen Tisch im Esszimmer. Insgesamt, Tanten und Neffen gerechnet, der hübsche Assistent war auch dabei, elf Köpfe. Auf dem mit einem weißen Leinen bespannten Tisch ruhte eine gewaltige Suppenterrine. Die Teller waren noch halbvoll, man blickte dem Eindringling erwartungsvoll entgegen.

Signor Riccione trat hinter seine Mutter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die alte Frau erhob sich und zeigte auf eine Tür, die ins Fernsehzimmer führte.
Kaum waren wir allein, wusste ich auch schon, dass sie mich durchschaute und dass die Geschichte, die ich mir so sorgfältig zurecht gelegt hatte, wertlos sein würde.

Ich liebe Giovanna! stieß ich deshalb in Panik hervor. Und Sie sind der einzige Mensch, der mir helfen kann!
Die Großmutter musterte mich streng.
Madonna mia! sagte sie endlich. Wer hat Ihnen geraten, die Knickerbocker wirklich anzuziehen? Sie verderben noch alles!
Dann überlegte sie kurz.
Wissen Sie was, junger Mann? Essen Sie mit uns! Giovanna hat heute die Pasta gemacht.

Sie öffnete wieder die Tür zum Esszimmer und erklärte den Anwesenden, die mit ihrer Suppe kaum weitergekommen waren, dass ich gute Nachrichten aus Italien gebracht hätte, von ihrem alten Jugendfreund Luigi Comachu aus Bologna. Ihm geht es gut, und er lässt euch alle grüßen! Ich habe diesen jungen Herrn gebeten, mit uns zu essen, und er hat freundlicherweise zugestimmt.

Ich grüßte nun die Anwesenden, und diese grüßten zu ihrer eigenen Verblüffung zurück. Ein Neffe rückte auf Weisung der Nonna eins weiter, und ich kam Giovanna gegenüber zu sitzen, die vor Ärger flammend rot wurde.

Aber nachdem die Nonna sich einmal entschlossen hatte, kannte sie keine Gnade mehr.
Giovanna, hole Teller und Besteck, damit der Herr von der guten Suppe kosten kann!
Giovanna trottete mit mürrischem Gesicht davon, und die Nonna weihte mich ein: Signora Alberta, Giovannas Mutter, die meine jüngste Schwiegertochter ist, hat sie gekocht. Sie ist eine gute Köchin. Besonders die Vorsuppen gelingen ihr, wenn sie genug Kalbsknochen dafür hat! Aber auch das Sugo für die Pappardelle alla Lepre. Nun, Sie werden ja sehen!

Giovanna trug ein weißes Matrosenkleid mit blauem Kragen und enger Taille, sodass es bei ihr überhaupt nicht kindlich wirkte. Einen Teil ihres Haares hatte sie zu Zöpfen geflochten. In ihrem Nacken zeigte sich nun duftiger Flaum. Sie war, nach Aussage der Tante aus der Flickschneiderei, gerade neunzehn geworden und bewohnte, seitdem die ältere Schwester vor zwei Jahren geheiratet hatte, erstmals ein Zimmer unter dem Dach für sich allein.

Giovanna stellte Platzteller, flachen und tiefen Teller vor mich hin und verteilte das zugehörige Besteck.
Noch nie war sie mir so nah gewesen.
Suppe? fragte sie dann eher unfreundlich. Was? fragte ich zerstreut zurück.
Doch Giovanna leerte Kelle um Kelle. Es war eine Gemüsesuppe mit Reis. Ein Korn mehr hätte den Teller überquellen lassen.
Grazie, Signorina!
Ein Stück Brot? drängte Signora Alberta. Vielen Dank!
Ich war im Begriff, ruhiger zu werden, denn als Giovanna sich über meinen Teller beugte, hatte ich einen leichten, frischen Duft von jungem Knoblauch, würzigen Basilikumblättern, nativem Olivenöl und zerstoßenen Pinienkernen wiedererkannt.

Mutter, Tochter, Großmutter und zwei Tanten verschwanden in der Küche. Man hörte einzelne Stimmen, die allmählich lauter wurden. Schließlich zerbrach Geschirr. Dann trat wieder die allgemeine Sonntagsruhe ein, und nur die üblichen Küchengeräusche stimmten auf das Kommende ein: das Rütteln der Soße für die Pasta, das Abgießen der Nudeln, das Ausschlagen des Siebes.

Signora Alberta sorgte dafür, dass die Nudeln auf die Teller kamen, Giovanna knallte das Hasensugo hinterher. Dann gingen Parmesan und Reibe von Hand zu Hand.
Ich sagte, dass ich gewiss zu ungeschickt sein würde, den Käse über meine Nudeln zu reiben.
Giovanna! sagte die Großmutter. Hilf dem jungen Herrn!

Giovanna stellte sich mit ihren vom Küchendunst erhitzten Wangen noch einmal neben mich und rieb den frischen, körnigen Parmesan über meine Bandnudeln.
Ich aß, alles schaute auf meinen Mund, und ich beeilte mich: Gut! über den Tisch zu rufen: Sehr gut!
Aber Giovanna antwortete (ohne dass es eine Antwort war): Die Pasta ist zu weich, und dem Sugo fehlt der Pfeffer!
Nein! Ich schaute fest entschlossen zu ihr hin. Bei mir zu Hause isst man die Pasta von nun an genauso und das Sugo ohne Pfeffer!

In Giovannas Augen blitzte es streitlustig, aber die Nonna und Signora Alberta nickten mir gnädig zu.
Ich aß den ganzen Teller Nudeln mit dem Hasenragout, trank reichlich von dem Wein, der in einer Korbflasche auf dem Tisch stand, und wurde allmählich etwas lockerer.
Während des Hauptgangs stellte mich die Großmutter der Familie vor, indem sie mich zu allen möglichen Dingen befragte. Zum Beispiel zum Familienstand (ledig), zur Religionszugehörigkeit (keine, was eine kirchliche Heirat aufschloss und die Augenbrauen aller erwachsenen Mitglieder der Familie in die Höhe trieb) oder zum Beruf:
Un medico? Sehr gut!
Schauen Sie sich nachher einmal meinen Rücken an? Madonna mia! Wenn Sie mir helfen könnten!
Giovanna, das ist ja wunderbar!
Die Augenbrauen sanken wieder herab.

Die Nonna fragte nüchtern Soll und Haben ab: sie fragte nach Vorlieben und Überzeugungen, nach meiner Einstellung zum polnischen Papst, zur Abtreibung und zur Ehe überhaupt, zur Kinderzahl (Giovanna wurde erneut rot vor Ärger) und dazu, welche Namen ich bevorzugen würde. In der Familie Riccione, das ergab die Gelegenheit, stellte man die Vornamen der Großeltern zum Rufnamen des Kindes.

Dann sprach sie über Stoffe, und Signor Riccione schaltete sich ein, strich abwägend über seinen Schnauzbart und lamentierte über die steigenden Kosten für englisches Tuch, dass sie ihn arm machen würden und dass der Familienbetrieb klein sei und viele Münder zu stopfen habe, sodass die nächste Hochzeit eher bescheiden ausfallen müsse und von Mitgift nicht die Rede sein könne. Außer natürlich - dabei löste er fasziniert und angeekelt zugleich den Blick von meinem pinkfarbenen Dinnerjacket - einer erstklassigen Garderobe für alle Gelegenheiten!

Da waren wir schon bei der Nachspeise, einer mächtigen Cassata, die der jüngste Sohn in einem italienischen Eissalon hatte holen müssen. Danach machte die Familie das Esszimmer frei. Die Frauen gingen in die Küche, die Kinder in den Garten, die Männer ins Fernsehzimmer, wo via Satellit ein Autorennen übertragen wurde.

Ich blieb hartnäckig sitzen.

Nach einer Weile kam Giovanna wieder ins Zimmer. Sie hatte geweint, schaute mich aber nach wie vor voller Widerspruchsgeist an und baute sich an der gegenüberliegenden Tischseite auf.

Ich werde nicht mit dir ficken und mein ganzes Leben mit dir verbringen, stieß sie zornig hervor, nur weil du meiner Großmutter und meinen Tanten gut gefällst!

Dann setzte sie sich. Für eine Welle war nur zu hören, dass nebenan Formel-1-Rennwagen ihre Runden drehten.
Ich schaute Giovanna, meine Giovanna, an, sah die Tränen und war ratlos.
Soll ich gehen? fragte ich und stand auf.
Giovanna erhob sich ebenfalls, und es schien, als wollte sie mich zur Tür bringen. Statt dessen kam sie direkt auf mich zu, blieb in Reichweite vor mir stehen und musterte mich durchaus interessiert von oben bis unten.
Magst du laute Musik? fragte sie.
Ja, antwortete ich. Aber nur von Guns N' Roses!
Und dieses Dinnerjacket? wollte sie wissen. Wirst du es behalten, auch wenn dir mein Vater was Neues schneidert?
Natürlich, antwortete ich. Schließlich gehört es zu meinem Leben!
Und wenn ich so fett werde wie die Nonna oder meine Tanten?
Dann werde ich abnehmen!

Wir setzten uns wieder. Zuvor verschwand Giovanna noch einmal in der Küche, von wo ich ein kurzes, aber intensives Getuschel hörte. Dann kehrte sie mit einem Gläschen Grappa für mich und einem winzigen Porzellanschälchen mit belgischen Praliné für sich selbst zurück.

Wir sprachen nun ernsthaft über die Vorzüge von hausgemachter Pasta und Richard Gere, über die Welthaltigkeit italienischer Fotoromane und darüber, wann ich meine eigene Facharztpraxis eröffnen könnte - in vier bis fünf Jahren. Bis es soweit war, wollte sie im Geschäft ihres Vaters arbeiten, danach aber zu Hause bleiben, zwei hübsche Kinder bekommen und für die Familie da sein.

Irgendwann fühlte ich, wie ein zierlicher Fuß behutsam versuchte, von unten in mein rechtes Knickerbockerbein zu gelangen, und ich war nun sicher, dass wir bis an unser Lebensende ein wunderbares Paar sein würden.

 

mosaik