Selhofer Straße

Wer hier fortging, sah auch Menschen, die blieben.
An Sonntagnachmittagen flogen
Federbälle über die Dächer, und
zur Kaffeezeit trafen sich alle
prüfenden Blicke.

Zeit war ein Fass mit schwerem Heizöl;
später eine Flasche,
halbgefüllt mit Benzin.
Der Fortschritt: ausgehöhlte
Pappschachteln
in einer staubigen Auslage,
nachgedunkelt die Vergangenheit,
ein Fleck über dem Volksempfänger,
uns eingebrannt wie das Kreuz
über der Tür.

Bis ich es genau wusste:
dass ich verlassen war unter allen,
blieb ich Kind, grüßte
Veteranen der Einsamkeit,
mit ihren knorrigen Spazierstöcken
und einem schleifenden Schritt, zurückgeblieben
von Gängen über erobertes Land.
Die Brüste der kleinen Mädchen wuchsen
hinter erleuchteten Fenstern, die ich verloren um-
strich, Bewohner einer anderen Welt.

Schlachttage, im Feuer der Erinnerung.
Grieben springen vom Rost
in den löchrigen Mund.
Unter den Fenstern der Häuser
versammelte sich die polypenarmige Ungeduld
der Katzen. Der Tod schritt stolz durch die Straße
und am helllichten Tag und unbehelligt von Zweifeln,
und Gott war unter der Ladentheke des Friseurs
und errötete, als ich sein gehorsames Kind
nicht mehr war.

 

 

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Lucky in Kessel


Lucky in Kessel ist in gewisser Weise der Roman zur ‚DU bist Deutschland'-Debatte: er handelt von einem Mann, der inmitten einer unübersichtlich und starr gewordenen Gesellschaft versucht, sich am eigenen Schopf aus dem - als nicht nur privat empfundenen - Unglück zu ziehen, um irgendwann glücklich zu sein.

Lucky in Kessel ist die Geschichte des Hans Hämpken, der früher einmal Ingenieur werden wollte und jetzt zusammen mit seiner Familie in der Kleinstadt Kessel eine Tankstelle betreibt. Als der Roman einsetzt, liegt der 11. September schon ein paar Monate zurück. Aber auch Anfang 2002 ist die allgemeine Lage noch unsicher. Die
wirtschaftliche sowieso. Eine Verkehrs-beruhigung ist geplant, die Existenz der Tankstelle steht auf dem Spiel.

In einer Situation, wo sich von außen her schon alles zu ändern scheint, merkt Hans
Hämpken, dass die Liste seiner unerfüllten Wünsche noch ziemlich lang ist. Eine Möglichkeit, daran etwas zu ändern, gibt ihm die zufällige Begegnung mit dem Camgirl Franzi Rosche. Die offensive Körperlichkeit der jungen Frau, die allein mit ihrem Sohn in Kessel lebt, zieht ihn magisch an und lässt ihn immer größere Wagnisse eingehen - bis die Affäre auffliegt.

Doch anstatt zu seiner Familie und in seinen Alltag zurückzukehren, zieht er zu seiner Ge-liebten, die von Sozialhilfe und ihrer Sex-Webcam lebt, deren Protagonist nun auch Hans Hämpken wird. Stück um Stück gehen ihm alte Bindungen und Sicherheiten verloren, doch es ergeben sich auch neue Perspektiven, die Hans Hämpken nutzen will, um dem zerbrechlichen 'Lucky in Kessel' näher zu kommen.

Lucky in Kessel, im Präsens und aus der Perspektive des Ich-Erzählers Hans Hämpken erzählt, ist ein Roman über die Möglichkeiten der Glücksuche in einer unbeweglich gewordenen Gesellschaft.


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