Im Bad Erzählung
[sie nannte das 'mein kleiner Horrorfilm']
[er sah zum erstenmal eine behinderte Frau, die völlig nackt war]
[er kannte durch die häuslichen Besuche der Prostituierten so viele Verwicklungen, dass er das Lachen für den Urgrund der Liebe hielt]
[man wurde, immer noch nackt, in Tücher und Decken gehüllt. Gegen ein Aufgeld packten die Aufseher auch Liebespaare zusammen]
[alle Welt sagt, dass du ein Kind kriegst! Ist das wahr?]
[ob es normal ist? - Nun, an jeder Hand sechs Finger und an jedem Fuß sechs Zehen, eine leichte Überkompensation der Natur]
[Som ma et nit weg maache?]
[ein unförmiges, Schrecken erregendes Wesen, an beiden Enden des Körpers mit Köpfen bewehrt, mit überlangen Armen und Beinen]
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Die Eltern waren durchsetzungsfreudig und wohlhabend. Sein Vater war Jurist, seine Mutter Ärztin. Fritz studierte Jura und Medizin und würde zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht einmal die Sozietät seines Vaters übernehmen. Ob er diesen Zeitpunkt erreichen würde, war nie ein Thema gewesen. Sein Leben war jedenfalls darauf ausgerichtet, dass er dieses Ziel erreichen konnte. Die Eltern hatten kein weiteres Kind haben wollen. Die Mutter träumte manchmal einen, wie sie sagte, furchtbaren Traum: in ihm wurden dem Baby die Knochen und das verkrümmte Rückgrat gebrochen, dann neu und gerade zusammengesetzt. Selbst die Beine wuchsen nach. Sie nannte das "meinen kleinen Horrorfilm" und erzählte jedem davon, den sie auch nur flüchtig kannte. Fritz hieß im übrigen so, weil seine Eltern ihm angesichts der Behinderungen etwas von der Disziplin des berüchtigten Preußenkönigs wünschten. Jeden
zweiten Mittwoch im Monat besuchte Fritz das Römisch-Irische
Bad. Über die Jahre hatte es sich ergeben, dass an diesem
Tag vor allem körperlich und geistig Behinderte aus Baden-Baden und
der näheren Umgebung in das klassizistische Gebäude unterhalb
des Neuen Schlosses kamen. Franziskus war der Älteste unter ihnen.
Niemand wusste, ob er wirklich so hieß. Er war weltkriegsversehrt,
doch ohne angemessene Rente für seine verlorenen Beine geblieben
und erklärte diesen Umstand mit einem geheimen Zusatzprotokoll der
Alliierten auf der Konferenz von Jalta im Februar '45, das allein ihm
gegolten habe. Er erzählte das jedem, der ihm ein Geldstück
in den Hut warf, erzählte es mit der großen Geste von Feldherren
und der gewerbsmäßigen Sanftmut von Säufern. Dann aber
zeigte er auf seinen klapprigen Rollstuhl und machte nur die Stadt und
ihre Gesellschaft für sein Schicksal verantwortlich. Franziskus
bettelte seit zwanzig Jahren in Baden-Baden, und das hieß, er bettelte
eigentlich nicht. Denn er hatte, wie auch einige andere Männer und
Frauen, mit den großen Hotels eine Art Tarifvertrag, der jedes Jahr
den Erfordernissen angepasst wurde. In ihm war festgelegt, dass sie dafür
bezahlt wurden, in der Hochsaison nicht zu betteln, sich nicht in Sichtweite
der Hotelauffahrten auf die Bürgersteige zu legen, und vor allem
nicht im Umkreis von hundert Metern zu sterben. Wenn sie sich an diese
Abmachung hielten, garantierte ihnen das jeweils nächstgelegene Hotel,
für eine menschenwürdige Bestattung zu sorgen. Die
Bettler wussten, dass sie der Absprache auch über den Tod hinaus
trauen konnten und schleppten sich, wenn es ans Sterben ging, über
die weiße Linie, die um die Luxushotels gezogen war. Franziskus
und die meisten anderen Bettler und Säufer in der Stadt waren stets
gut gekleidet: für sie wurden alte Uniformen der Portiers und Pagen
zugeschnitten. Als offizieller Sprecher der Bettler und Säufer wurde
er zum Neujahrsempfang des Oberbürgermeisters geladen und verbrachte
einem im Monat einen Tag in der Kurabteilung des Parkhotels. Man schnitt
ihm Haare und Barbarossabart, manikürte die Nägel und pflegte
den hornhäutigen Körper. Dann nahm er zusammen mit anderen Benachteiligten
der Gesellschaft im Speiseraum des Personals eine Mahlzeit ein. Wenn Franziskus
danach aus dem Hotel rollte, gewaschen und gepflegt, satt und in gereinigten
Kleidern, musste selbst er zugeben, was ihm nun jeder auf den ersten Blick
bescheinigte: wieder ein Mensch zu sein! Es
war vorgekommen, dass er als solcher von einem eintreffenden Gast für
einen Pagen gehalten wurde und sein Rollstuhl für eine Art Gepäckkarre:
So hatte ein junger Manager, der schwungvoll bis unter den Baldachin des
Entrees vorgefahren war, einmal mit souveräner Geste zwei große
Vuittontaschen aus dem Kofferraum seines Sportwagens gezogen und dem gerade
vorbeirollenden Franziskus in den Schoß fallen lassen. Unter
den Bettlern gab es nur wenige Frauen. Unter ihnen war Tini. Sie lebte,
soweit man davon sprechen konnte, mit Franziskus zusammen, jedenfalls
fühle er sich für sie verantwortlich, und ihr war es egal. Sie
war Ende Vierzig, debil und durch die langen Jahre ihrer Existenz als
Prostituierte am Güterbahnhof so vom Rheuma
durchwühlt, dass sie sich kaum noch bewegen konnte und im Tran starker
Schmerzmittel vor dem Bahnhofsklo oder einem der Striptease-Lokale der
Stadt Pariser verkaufte - bis irgendwann überall Automaten aufgestellt
wurden und sie vollends zum Sozialfall absank. Auch sie kam jeden zweiten
Mittwoch im Monat ins Römisch-Irische Bad. Die Bäder- und Kurverwaltung hatte ursprünglich der Geschäftsentwicklung an diesen Mittwochnachmittagen sorgenvoll zugesehen, sie schließlich stillschweigend toleriert und sich beim Eintrittsgeld mit einem symbolischen Betrag begnügt. Es schien immer noch besser, die Behinderten und Säufer an einem Tag zusammenzufassen, als sie an mehreren Tagen unter den anspruchsvollen Badegästen der Stadt zu haben. Am Donnerstag wurde dann etwas später geöffnet, zuvor wurden ein Wasserwechsel und die monatliche Generalreinigung vorgenommen. Fritz
tat das Römisch-Irische Bad einfach gut: der heiße Dampf, das
Thermalwasser, die Seifenmassage und vor allem die Nacktheit, die vorgeschrieben
war. Als er zum erstenmal von seinem Pfleger vor der Umkleidekabine abgesetzt
wurde, sich auszog und zur Dusche tragen ließ, war es auch das
erste Mal in seinem Leben, dass er seinen Körper einer wie auch immer
gearteten Öffentlichkeit nackt zeigte. Fritz
hatte ein ebenmäßiges, leidlich hübsches Gesicht, einen
auffallend dicken Hals, dessen Muskelstränge vorstanden, und sehr
lange Arme, die gleich an einen Riesenaffen denken ließen. Dabei
waren die Arme etwas an ihm, was zwar auf eine anrührende Weise komisch
wirkte, zugleich aber dem Schrecken erregenden Körper ein Gleichgewicht,
ja eine für den Betrachter fast vertraut wirkende Anmut verlieh.
Mila
hingegen war wie er. Sie war einige Jahre älter, hatte keine Arme
und war recht hübsch, doch gewiss ungewöhnlich proportioniert:
die fehlenden Arme rundeten ihre Schultern, das Schwergewicht des Körpers
lag auf dem breiten Becken und die kleinen Brüste erweckten den Eindruck,
als lägen sie in einer Höhle. An sich war sie blond. Aber sie
färbte sich das Haar überall in einem leuchtenden Rot, wie sie
es einmal bei einem großen Käfer gesehen hatte. Fritz
entdeckte sie auf der anderen Seite des Beckens, kroch die Stufen hinauf
zu seinem Skateboard und sauste zu ihr. Dabei jagte er mit dem herabhängenden
Arm das Thermalwasser auf wie ein Hemingwayscher Fisch. Mila
hatte eine fundamentale Herzschwäche und nicht mehr lange zu leben,
wusste aber nach Aussage der Ärzte nichts davon. Sie war beim dem
Verstand einer Dreijährigen hängen geblieben (was nicht wenig
war), und seit sie Vierzehn war, legte ihre Mutter zu dem guten Dutzend
Tabletten, das ihr täglich gegeben wurde, weil ab und zu das eine
oder andere ihrer inneren Organe versagte, eine unscheinbare weitere hinzu.
Ihr
Vater war ein französischer Offizier, der, als er bald nach der Geburt
der Tochter versetzt wurde, die Familie nicht mehr an den neuen Garnisonsort
nachholte.
Die Mutter schlug sich als Änderungsschneiderin durch und versorgte
schließlich einem Pfarrer den Haushalt. Mila half ihr später
dabei. Als feststand, dass sie wahrscheinlich nur noch ein Jahr hatte,
erlaubte der Pfarrer, dass sie ins Römisch-Irische Bad ging. Bald
zeigte sich, dass sie dort allein zurechtkam, und so setzten die beiden
Mila an jenen Mittwochnachmittagen vor dem Eingang ab und gingen ins Kino
oder zu einem Vortrag. Waren
Fritz' Arme und Hände besonders lang und kraftvoll, so zeigte Mila
mit ihren Beinen und Füßen eine unglaubliche Geschicklichkeit.
Sie trug auch im Winter offene Sandalen, aus denen sie jederzeit ohne
fremde Hilfe schlüpfen konnte. Mit ihren Giraffenhalsbeinen und den
biegsamen Füßen erledigte sie sodann jede nur denkbare Aufgabe.
Am liebsten half sie in der Kirche: löschte nach der Messe die Altarkerzen,
zählte das Geld im Klingelbeutel, indem sie von den verschiedenen
Münzsorten Türmchen baute, und sammelte die Gebetbücher
ein. Manchmal dürfte sie schon vor der Messe helfen. Dann fischte
sie mit dem linken Fuß Hostien aus der Vorratskiste und legte sie
mit dem rechten vorsichtig, damit nichts zerbrach, in den Kelch. Zum Schluss
entkorkte sie, voller Vorfreude in Erwartung des dumpfen Knalls, den Messwein.
Fritz reichte ihr nur bis zum Bauch. Als er auf seinem Brett bei ihr ankam, sah er, dass ihre Haare von einem Rot waren, wie er es einmal in einer botanischen Sammlung bei einem Käfer entdeckt hatte. Mila schaute auf ihn herab. Fritz bedeutete ihr, dass er nicht würde aufschauen können, ohne von seinem Skateboard zu fallen. Sie verstand ihn nicht. Doch obwohl es keinen wirklichen Grund dafür gab - außer den, ihn kennen lernen zu wollen - bückte sie sich tief zu ihm hinab. Nun sah sie seine Augen und auf gleicher Höhe eine Behinderung, die er in ihrer Gegenwart nicht mehr los wurde. Schon wenn er an den Mittwochnachmittagen das Foyer des Römisch-Irischen Bades betrat, spürte er sie. Sie verließ ihn nicht bei den Duschgängen, die er nun kalt nahm, und nicht bei den Dampforgien, wenn er sich auf die oberen Steinstufen heben ließ, wo es am heißesten war. Nichts half. Seine Mutter, der er sich anvertraute, fügte der Unzahl seiner Indikationen eine neue hinzu. Doch der Allah ergebene türkische Masseur nahm bei der Seifenmassage auch diese mit großem Gleichmut zur Hand und massierte sie mit gleicher Akkuratesse wie den Buckel und die übrigen Körperteile, soweit sie eben vorhanden waren. Im übrigen war, weil den meisten Badegästen ein Drittel oder die Hälfte der Gliedmaßen fehlte, an diesen Tagen die Wartezeit vor einer Massage viel kürzer.
Dann
freilich zeigte sie unvermittelt auf die Erektion. Fritz kam es nun so
vor, als habe sich das Lachen darauf bezogen. Im ersten Moment reagierte
er betroffen, doch kannte er durch die häuslichen Besuche der Prostituierten
so viele Verwicklungen, dass er das Lachen für den Urgrund der Liebe
hielt, zu dem einfach jede leidenschaftliche Umarmung hinführen musste,
wenn sie ihren Namen verdiente. Also lachte er, lachte laut und fröhlich wie ein Dreijähriger, mit dem Gran an Bitterkeit, das immer in ihm war. Sie
wurden ein Paar. Niemand hieß es gut, aber da beide behindert waren,
äußerte auch niemand einen Vorbehalt. Wenn
man sie beisammen sah, lächelte man vielmehr mild, wie über
Kinder und ihre Sandkastenliebe. Fritz und Mila schwammen gern zusammen
im großen Thermalbecken und liebten es, im Wasserdampf auszuruhen,
nebeneinander sitzend, an den fast heißen Stein gelehnt. Ihr Fuß
berührte seine Hand. In den Gesichtern jene weglose Verlorenheit,
zu der ganz ohne Zweifel schon Dreijährige fähig sind. Miteinander
zu schlafen erwies sich als schwierig. Sie waren niemals und stets allein
gewesen, galten als hilflos, waren es auch in mancherlei Hinsicht. Zumeist
hatte sich ein Pfleger oder ein Familienmitglied in ihrer Nähe aufgehalten
- die körperliche Liebe war zugelassen und organisiert worden. So
war Mila mit Vierzehn von einem Pfleger, der eine Gruppe von behinderten
Jugendlichen in ein Feriencamp begleitete ... - nein, er hatte sie nicht
vergewaltigt, also keine körperliche Gewalt angewandt, und er hatte
sie auch nicht verführt, hatte also keine psychische Gewalt angewandt,
er schlief einfach mit ihr, während sie eine Tafel Bitterschokolade
aß, die er ihr zuvor wie zum Vorspiel gegeben hatte. Niemand bemerkte
es. Als ihre Mutter einige Monate später mit ihr zu ihrem Gynäkologen ging, weil Mila ihre erste Menstruation hatte, erklärte dieser, dass sie nicht mehr unberührt sei. Ihre Mutter ließ jene zusätzliche Tablette verschreiben und zeigte ihrer Tochter, wie sie sich mit Zehenspitzen und Fußballen selbst befriedigen konnte. Denn sie sagte sich: wenn Dreijährige eine Sexualität haben, sollen sie auch in der Lage sein, damit fertig zu werden. Die
Ruhephase nach dem anstrengenden römisch-irischen Dampfbad verbrachte
man in einem kreisrunden Raum, der abgedunkelt war und vollgestellt mit
Holzliegen. Man wurde, immer noch nackt, in Tücher und Decken gehüllt.
Gegen ein Aufgeld packten die Aufseher auch Liebespaare zusammen: eine
blinde Frau hatte einen blinden Mann gefunden, zwei querschnittsgelähmte
Homosexuelle einen gangbaren Weg, eine strenggläubige Türkin,
die stets mit dem Tschador in die Therme stieg, liebte einen orthodoxen
Juden, der seit vielen Jahren in der Stadt zehn Männer suchte, mit
denen er den Gottesdienst feiern konnte, und den man deshalb für
geistesgestört hielt. Es
fanden sich Paare, die es eigentlich nicht geben durfte, und die Angelegenheit
wurde von den Verantwortlichen in der Kurverwaltung der weltbekannten
Badestadt als so schrecklich angesehen, dass man vor Grauen förmlich
erstarrte.
(Es sollte also recht lange dauern, bis ein Schwarzeneggerscher Säufer
im Delirium tremens neu in der Stadt auftauchte und, ermutigt durch die
Anschubkraft einer Flasche Jägermeister, mit einer Dreijährigen
und einem Skateboardfahrer Streit suchte.) Dort
im Ruheraum herrschten die verwunschenen Lichtverhältnisse romanischer
Kappellen. Die Atmosphäre war zugleich spannungsgeladen und hoch
konzentriert. Nur manchmal schwirrte ein Seufzen bis unter die Kuppel.
Ruhe war vorgeschrieben, doch weil ihr ein unterdrücktes Lachen zugrunde
lag, war sie vollkommen heiter. Als
Fritz bemerkte hatte, wie alt Mila wirklich war, hatte er sich schon unsterblich
in sie verliebt und nicht sein Jagdtrieb war erwacht, sondern seine Fürsorge.
Trotzdem bat er den türkischen Masseur, auch ihn und Mila gemeinsam
auf eine Liege zu betten. Doch erst als Mila ausdrücklich "Ja!"
sagte, folgte dieser der Bitte. Der gottesfürchtige Muslim wickelte
die Dreijährige am Fußende ein und den Mann mit seinem Skateboard
am Kopfteil. Die beiden fanden bald heraus, dass es eine wunderbare Stellung
war, um nicht zu ruhen, und wenn Fritz Mila etwas zuflüsterte über
die Notwendigkeit, Bewegungsabläufe einzuhalten, lächelte sie
so unbefangen, wie es nur in diesem Alter möglich ist, sagte leise:
"Ja!" und hielt sich auch weiterhin nicht im Mindesten daran.
Nach dieser Ruhephase versammelten sich die Liebespaare im Salon, einem eleganten, großzügigen Raum im ersten Stock des Friedrichsbades, mit Sicht auf die Stadt. Einige Betreuer und Badewärter waren dabei, hielten sich aber zurück. Gewöhnlich hatte man zusammengelegt und ein kleines Büffet besorgen lassen. Man aß und trank, dachte über das Lachen nach, war traurig und zufrieden, vergewisserte sich melancholisch des Lebens, das sich verflüchtigte, und nach und nach erinnerte man sich auch der fehlenden oder deformierten Körperteile. Dann war es Zeit aufzubrechen. Bei
der Menge an Tabletten, die Mila jeden Tag zu sich nahm, ließ sich
nicht ausschließen, dass eine darunter war, die die Wirkung einer
anderen aufhob. Als Tini im Römisch-Irischen Bad bemerkte, dass Mila
schwanger war, fragte sie, ob Mila das Kind wegmachen wolle. Die
ehemalige Prostituierte hatte etliche Abtreibungen hinter sich und
bot an, den Abbruch gegen zwei Flaschen badischen Spätburgunder vorzunehmen.
Mila sagte wieder" "Ja!", und Tini sammelte daraufhin Werkzeug
ein, das ihr nützlich sein konnte: Hammer und Meissel, eine Rohrzange
und ein Allzweckmesser schweizerischer Herkunft, mit Feile und Korkenzieher.
Die
meisten Dinge stammten aus dem Obdachlosenasyl der Stadt. Der Diebstahl
wurde bemerkt und Mila bei nächster Gelegenheit von ihrer Mutter
in den Arm genommen: "Alle Welt sagt, dass du ein Kind kriegst! Ist
das wahr? Aber seit wann kriegen Dreijährige ein Kind? Ich habe dir
doch gezeigt, wie man es sehr schön selbst machen kann! Hat dir das
nicht gereicht? Oder hat dich wieder irgend so ein Kerl zwischen gehabt?" Mila
liebte es, wenn ihre Mutter sie umarmte. Sie erwiderte also mit ihren
Beinen die Umschlingung, lächelte nur innig und sagte nichts. Die
Mutter fand im Zuge ihrer weiteren Nachforschungen ihre Tochter und den
jungen Mann im Dampfbad: die Köpfe aneinandergelehnt, die Augen geschlossen,
den heißen Stein im Rücken. Sie sah Fritz' Behinderung und
fragte ihn gleich, ob er der Vater des Kindes sei. Fritz zögerte
keinen Augenblick und sagte im selben Augenblick wie Mila: "Ja!"
Milas
Mutter setzte sich seufzend zu ihnen: "Wie soll das weitergehen?
Mila ist erst Drei, und mit Drei kriegt man gewiss noch keine Kinder!" Fritz
antwortete nun wie ein preußischer Offizier, bei dem es um die Ehre
geht: "Ich werde Mila heiraten!" Ihre
Mutter seufzte erneut und ärgerte sich insgeheim über das unwirkliche
Selbstbewusstsein. "Haben
Sie Mila denn gefragt?" wollte sie wissen. Er
rollte in die große Thermalhalle und Tagete laut in die Hände.
Mila blieb dicht neben ihm. Franziskus erkannte gleich, worum es ging
und rief mit seiner Bassstimme, die wie ein Essensgong tönte: "Sie
werden heiraten!" Fritz
rutschte also vom Brett und bat Mila, ihm den rechten Fuß zu reichen
- was sie auch tat. Dann fragte er sie vor Gott (auf den er insgeheim
hoffe, aber an den er nicht glauben wolle) und vor all diesen Menschen
(an die er glaube, aber auf die er nicht hoffen möge), ob sie seine
Frau werden wolle. Unter der byzantinischen Kuppel war es still geworden. Alle schauten auf Mila, die den Fuß zurückzog, um sich Wassertropfen aus dem Gesicht zu streichen. Dann gab sie ihre Antwort, und alle brachen in Jubel aus, als wäre eine andere nicht möglich gewesen. Der
Gynäkologe, ein alter, schon etwas zittriger Mann mit weißem
Spitzbart, sagte abenteuerlustig: "Den Befunden nach schafft sie's
nicht - ganz gleich, ob mit oder ohne Kind! Aber wenn sie's schafft, dann
werde ich das Kind auch holen!" "Und
das Kind?" fragte Milas Mutter besorgt. Der
Alte lächelte jetzt vergnügt: "Ob es normal ist? - Nun,
an jeder Hand sechs Finger und an jedem Fuß sechs Zehen, eine leichte
Überkompensation der Natur. Ansonsten wird es so normal sein, wie
wir das von hier draußen sagen können!" Mila
nahm das hübsche Foto vom Ultraschall mit nach Hause und zeigte es
dem Pfarrer, der eine Art Vormund war. Um ganz sicher zu gehen, suchte
der Rat bei seinem Bischof, der den Fall der Bischofskonferenz vorlegte.
Diese unterhielt einen ständig tagenden Ausschuss über etwaige
Ausnahmen vom kirchlichen Abtreibungsverbot. Den
Theologen lag, wegen der Dringlichkeit des Falls, schon bald ein vollständiges
Dossier vor, das die Lebensläufe von Fritz und Mila enthielt, ihre
Krankheitsgeschichten, klinische Gutachten und nicht zuletzt eine Reihe
von Fotos, die ihre Behinderungen zeigten und die neueste Aufnahme vom
Ultraschall, auf der das Kind Finger und Zehen wie zur Nagelpflege spreizte.
Dennoch
wollte man sich selbst ein Bild machen, bestellte Mila ein und gab ihr
Stifte zum Malen. Sie malte ein Haus und einen Baum, und man bewunderte
die Geschicklichkeit ihrer Füße. Ein
pausbäckiger Theologe aus dem Rheinland setzte sich sogar neben sie,
schüttelte sorgenvoll den Lockenkopf in Richtung der anderen Geistlichen
und sagte einfühlsam: "Ach, Mädsche!
Wat machste nur, wat machste nur! Nu belur dich doch ens! Un dinge Spezi!
Dat jit doch nix Halbes un nix Janzes! Sach doch ens selbs: Som ma et
nit weg maache?" Mila antwortete einfach: "Ja!" Eine
japanische Touristengruppe, zehn oder zwölf Männer in Business
Anzügen, durchsichtigen Plastikregenmänteln und klobigen Schuhen,
entdeckte die Körper, die auf der Höhe der Kunsthalle in einem
Wehr der Oos hängen geblieben waren. Es war schon fast dunkel, und
die Japaner waren auf dem Weg zu einem Stripteaselokal gewesen, das sie
am Nachmittag gleich gegenüber dem 'Haus des Kurgastes' entdeckt
hatten. Da sie sich nicht einigen konnten, wer bleiben und wer gehen sollte,
marschierten alle zur Gäste-Information, die auf ihrem Weg lag. Es
war eine kleine Prozession, gut sichtbar, weit jeder der Japaner eine
milchfarbene, in der Dunkelheit weithin leuchtende Plastiktüte mit
sich führte, worauf zu lesen war: Spiegel-Leser
wissen mehr! Die
Japaner verbeugten sich vor der Dame von der Gäste-Information und
erzählten, was sie gerade gesehen hatten. Der Senior unter ihnen
erklärte, dass der an Dienstjahren jüngste Manager ihrer Gruppe
bereit sei, die Polizei an die betreffende Stelle zu führen. Die
anderen wünschten jedoch, noch etwas von der Stadt zu sehen. Die
Dame von der Gäste-Information verbeugte sich höflich und erklärte
den Besuchern, dass es im heimischen Schwarzwald einen alten Brauch gebe,
der sogar bis auf die Germanen zurückgehe und zur Zeit der Sommersonnenwende,
also in diesen Tagen, fleißig geübt werde: nämlich große
Strohpuppen, die Menschen täuschend ähnlich sehen, Bäche
und Flüsse hinabtreiben zu lassen - so wie ein anderen Gegenden Europas
Feuerräder von den Bergen gerollt wurden oder sich Liebespaare auf
den Rübenfeldern paarten, um die bösen Geister zu vertreiben.
Die Puppe jedenfalls, die dabei am weitesten komme, werde gekrönt.
Deshalb werde man nun also den Eigentümer der Puppe in der Oos ausfindig
machen und ihn vom genauen Fundort verständigen. Die
Japaner waren beeindruckt und zufrieden, verbeugten sich und zogen wieder
ab. Die Dame von der Gäste-Information nahm eine Karte der Stadt,
zeichnete den Fundort ein und legte eine durchsichtige Scheibe darüber,
mit genauen Markierungen für die Abstände, stellte das nächstgelegene
Hotel fest und telefonierte mit dessen Portier. Der stimmte ihr zu, dass
es sich um eine der vertraglich mit den Bettlern und Säufern festgelegten
Situationen handeln müsse. Er marschierte umgehend zur Tiefgarage
des Baden-Badener Kongresshauses, wo in den Sommermonaten stets einige
der Bettler übernachteten. Dort traf er auf Franziskus und Tini und
rüttelte sie aus ihrem Suff. Nach langem Gemaule und Gezerre machten
sich die beiden auf. Wehklagend
über ihr Rheuma watete Tini ins Wasser, befestigte irgendwo an dem
undurchschaubaren Gemenge einen Kälberstrick und dann zogen beide
mit letzter Kraft die Leichen über das ansteigende Ufer der Oos bis
auf eine Art Tablett, das in Franziskus' Rollstuhl eingehängt und
über die Armlehnen geklappt werden konnte. In
Tran und Dunkelheit bemerkten die beiden nicht, wen oder was sie wegfuhren.
Es waren ihnen auch egal. Bis zur weißen Linie fehlten nur ein paar
Meter - aber um sicher zu gehen, überquerten sie die Lichtentaler
Allee in Richtung Kunsthalle, wo es keine Hotels gab. Zuerst
wollte Franziskus die Last in den jenseitig angrenzenden Büschen
abladen. Doch Tini fror erbärmlich und klappte das Tablett einfach
hoch - ungefähr dort, wo zuvor bei der hochgelobten Chamberlain-Ausstellung
des Museums eine der berühmten Autoblech-Plastiken in der Allee ausgesetzt
worden war. Die Totenstarre hatte noch nicht nachgelassen, und die wenigen Stunden, die die Performance dauerte, hielt die Plastik ihr tropfendes Gleichgewicht: ein unförmiges, Schrecken erregendes Wesen, an beiden Enden des Körpers mit Köpfen bewehrt, mit überlangen Armen und Beinen, mehrfach verschlungen und verdreht, bizarre Wölbungen auf Vorder- und Rückseite. Gegen Mitternacht kam ein älteres Paar vom nahegelegenen Spielcasino, um in der Allee noch einmal frische Luft zu schöpfen. Der Mann trug einen Smoking, die Frau ein langes Abendkleid. Sie spazierten eine Weile schweigend unter dem Baldachin der Bäume. Auf der Höhe der Kunsthalle verharrten sie für einen Moment. Die Frau schüttelte missbilligend den Kopf, der Mann reichte ihr den Arm und sie spazierten weiter. |