[aus: Ganz unten fließt der Rhein... - Kölner Autoren über den Platz, den sie lieben. Hg. v. J. Arlt, Horlemann 1993]

 

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Die Hauptstraße in Frechen

 

Es gibt, wie bei Menschen, auch bei Städten und Landschaften jenen berühmten ersten Blick: Wir wollten in Köln studieren und fanden eine kleine Dachwohnung in Buschbell, einem ländlichen Stadtteil von Frechen. Der freundliche Vermieter lud uns in seinen Wagen und zeigte uns die City, vor allem die Hauptstraße, und Patrizia sagte, auf den ersten Blick: Das ist die hässlichste Stadt, die ich je gesehen habe! Fünfzehn Jahre später suchten wir, nach langer Abwesenheit, wieder eine Wohnung, und wenn Patrizia gefragt wurde: Wo?, sagte sie: Überall - nur nicht in Frechen!

Der Schock saß tief.

Es half jedoch alles nichts. Die Wohnung war groß, nicht teurer als andere und vor allem: wir konnten sie, in diesen Jahren der Wohnungsnot, wirklich haben. So kamen wir in die Hauptstraße.

Frechen ist eine Industriestadt ein paar Schritte westlich von Köln und hat etwa 45.000 Einwohner. Der Ton hier ist proletarisch, herzhaft. Die Arbeitersiedlungen tragen Backsteinfayencen, die Fabriken das Ornament der Fäuste und es ist durchaus noch üblich, ein Leben lang bei Rheinbraun, in den Quarzsandgruben oder den Steinzeugwerken zu arbeiten.

Die Stadt wird, in Erbpacht, von den Sozialdemokraten regiert. Die Gewerkschaften sind stark und sorgen für die Sachzwänge
der Solidarität, und wenn man bei Vollmond vom Rathausplatz her die Wölfe heulen hört, weiß jeder, dass die SPD wieder eine Mitgliederversammlung abhält.

Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist Frechen ein Zentrum der europäischen Steinzeugindustrie. Der Braunkohleabbau brachte als Nebenprodukt Tone, die ebenso wie die hier gefundenen Quarzsande Basis der keramischen Industrie und der handwerklichen Töpfereien sind. Wer heute entlang der Hauptstraße baut, für den gilt als Faustregel, dass er ein Tafelservice für wenigstens sechs Personen ausgraben wird - Zeugnis für die einstige Bedeutung der "Kannenbäckerei".

Die Hauptstraße hat eine Länge von einem Kilometer. Etwa die Hälfte davon ist Fußgängerzone. Am oberen Ende rammte die evangelische Kirche ihr Zeichen ein, am unteren die katholische: St. Audomar, 1859 gebaut und hervorgegangen aus der Urzelle der Stadt, einer Hofanlage im Besitz der nordfranzösischen Abtei St. Bertin. Das war im Jahre 877, und wie man annimmt, entwickelte sich von dort, also in etwa die Hauptstraße entlang, die Gemeinde.

Egon Heeg beschreibt in seinem Buch "Frechener Straßen", dass die Hauptstraße schon im frühen 18. Jahrhundert eine Verkehrsachse für den Schwerlastverkehr und für Postwagen auf der Strecke Köln-Aachen war. Sie war die erste gepflasterte Straße in der Stadt und nahm (wo zuvor der Frechener Bach verlief) 1893 die Gleise der Köln-Frechen-Benzelrather Eisenbahn auf. Heute fährt dort die Straßenbahnlinie 2 bis zum Neumarkt. Durch die gerade Ost-West-Ausrichtung scheint die Straße Einwirkungen von außen schutzlos preisgegeben: eine bloße Durchgangsstation auf der Reise zu den Zentren der Welt. Einfamilienhäuser stehen gleich neben Waschbetonkolossen, Bretterbuden neben Häusern aus der Zeit der Jahrhundertwende. Die schäbigen Kunststofffassaden, die grellen Leuchtreklamen verbreiten eine Tristesse, wie man sie nur von Kleinstädten des amerikanischen Mittelwestens kennt. Allein im Bereich der Fußgängerzone, wo eine kleine Allee gepflanzt wurde, wird der Blick ein wenig abgelenkt von der unharmonischen Bebauung.

Alte Fotos zeigen über der Stadt eine undurchdringliche Smogwolke und noch vor kurzem färbte man in Familien, die aufs Geld schauten, bei einem Todesfall helle Kleidung, indem man sie einige Tage ins Freie hängte. Rheinbraun hat, wie die ganze Braunkohlenregion, auch Frechen fest im Griff. Die Kommunalpolitiker sprechen von einer Vernunftehe, Patrizia sagt, dass Vergewaltigung auch in der Ehe zu selten bestraft wird. Die Menschen lebten hier nicht selten davon, dass sie sich selbst die Erde unter den Füßen wegschaufeln mussten. Die Region wurde fast nach Belieben ausgehöhlt und nach Norm wieder aufgearbeitet und die Menschen lernten, es mit einem gewissen Gleichmut hinzunehmen.

In der Mitte der Fußgängerzone öffnet sich die Hauptstraße zum Rathausplatz. Das alte Rathaus wurde 1907/08 von Regierungsbaumeister Carl Moritz erbaut. Ein schönes Gründerzeitgebäude, schiefergedeckt und mit Türmchen, restauriert und zum Denkmal erhoben. Heute ist dort das Standesamt untergebracht. An der Außentreppe das Stadtwappen: der Löwe mit dem Bartmannkrug. Gleich neben dem alten wurde Ende der 70er Jahre das neue Rathaus errichtet. Ein Beispiel für den heutigen Frechener Baustil: ein Betonklotz, bei dessen Einweihung sich die Sonne verfinsterte und alteingesessene Frechener sich im Grabe umdrehten. Das alte Rathaus wird abends angestrahlt, das neue abgedunkelt, als fürchte man Fliegeralarm.

Für die Pänz ist die Fußgängerzone der einzige Spielplatz, und die Straßenbahn ist berühmt für ihre Vollbremsungen. Die "offiziellen" Spielplätze am Rande der Innenstadt sind in einem Zustand, der jeder Beschreibung spottet. Die städtischen Arbeiter, die sie pflegen sollen, betreten sie nur in Schutzanzügen und selbst die Hundehalter meiden sie. Überhaupt die Pänz! Es gibt sie in Massen. Manchmal versammeln sie sich vor dem Rathaus, schenken dem Bürgermeister eine ihrer Lieblingspuppen und bitten ihn wenigstens um einen Kindergartenplatz. Dann setzt sich der freundliche Mann mitten unter sie, zieht zwei kleine Mädchen auf seinen Schoß, schenkt ihnen ein Foto mit Autogramm und erklärt, dass auch er nicht im Kindergarten war und trotzdem noch Bürgermeister geworden sei.

Dort am Rathausplatz befindet sich auch der Klüttenbrunnen von Olaf Höhnen. Er zeigt Stationen der Braunkohle vom Abbau bis hin zum Stapeln der Briketts im heimischen Keller: Heimatkunde, anschaulich und harmlos. Aber die Kinder lieben es, nach den Wasserstrahlen zu haschen und die alten Leute sitzen dort, trinken ihren Kaffee, den sie gegenüber bei Eduscho geholt haben, und schauen auf das Treiben. Unter den alten Platanen und Linden ruhen erschöpfte Mütter mit ihren Kindern ebenso wie die städtischen Säufer und ich, hier beten fromme Muslime, sprechen Serben mit Kroaten und hier feixt die örtliche Punkbewegung. Der beschauliche Wochenmarkt findet hier statt und die chaotischen Stadtfeste, bei denen Zehntausende von ahnungslosen Besuchern in die Fußgängerzone gezwängt werden, deren Bewohner in die Wälder fliehen oder in die äußeren Stadtteile.

Auch die schwarzhaarige junge Frau aus dem Reisebüro kommt hier vorbei, wenn sie in der Mittagspause eine türkische Pizza geholt hat. Dann sucht sie sich eine freie Bank vor der Marienschule, um in Ruhe zu essen und zu schauen. In der ehemaligen Schule, gleich neben dem Klüttenbrunnen, ist das Keramikmuseum untergebracht. Es informiert über die Tradition der Töpferstadt, die Fertigung von Steinzeugrohren, die Verbreitung der berühmten Bartmannkrüge. Ein stiller, fast meditativer Ort, denn ohne Touristen (die freiwillig nicht nach Frechen kommen) ist das Haus meist leer. Dabei werden die beiden Teile der Schule architektonisch auf eine Weise verbunden, die für Frechen eine kleine Sensation bedeutet: behutsam angelehnt an den klassizistischen Bau, mit viel Glas, das in weiße Metallbahnen unterschiedlicher Größe gefasst wurde, grazil, luftig, leicht - ein einladender Bau, der schon äußerlich Lern- und Lehrvorgänge sichtbar macht.

Jenseits der Fußgängerzone brandet der Verkehr, und die besondere Akustik der Hauptstraße hat mit dem Lieblingssport der Frechener zu tun: Autorennen. Die Wagen sammeln sich vor dem Rathauscenter und biegen, wenn die Ampel das Signal gibt, in die lange Gerade der oberen Hauptstraße ein. Es liegt dann etwas von der Atmosphäre der großen 24-Stundenrennen in der Luft. An beiden Straßenseiten der Kreuzung haben sich Eiscafes und Schnellrestaurants angesiedelt. Im Sommer sitzt man draußen, schaut sich die Rennen an, schließt manchmal Wetten ab und jubelt seinen Lieblingen zu.

Zur akustischen Nachtseite gehört die Feuerwache, wenige Meter hinter dem Rathaus. Die Sirenen ihrer Einsatzfahrzeuge beherrschen den Luftraum über der City, die plötzlich an die New Yorker Bronx erinnert. Vor allem im Morgengrauen, wenn die Siedler am hilflosesten sind, greifen die Indianer an. Jede Nacht ist es das gleiche Bild: Familienväter, die sich stöhnend zur Seite drehen, Frauen, die versuchen, ihre weinenden Kinder zu beruhigen. Die Alten, in den Seniorenwohnungen neben der Wache, die mühsam nach Licht tasten, um ein Glas Wasser für das Schlafmittel zu holen... Die Liebespaare aber vergewissern sich, dass der andere noch da ist. Man überlegt gemeinsam, wie man diesen Umstand nutzen könnte, und findet sich bald in einer einvernehmlichen Umarmung. (Im Umfeld der Wache siedeln sich immer mehr Apotheker an, und einer der Marktführer bei Schlafmitteln ist seit einiger Zeit Hauptsponsor für die Grillfeste der SPD - keine Chance, die Wache zu verlegen.)

Es gibt hier, Patrizia sagt: das ist das Rheinische an der Stadt, fast nur "kleine" Leute. Man kommt gut mit ihnen aus. Man hält sich an den Alltag, wie er sich auf der Hauptstraße ständig und überall und ohne falsche Scham zeigt: Der tägliche Einkauf mit seinen geschmeidigen Ritualen, das betäubende Murmeln der Einsamkeit auf den Gesichtern der Männer und Frauen, das Geschrei der Kinder, die sich nicht fügen. Die Sehnsüchte, die Liebe, die Melancholie bleiben außen vor. Man ist vorsichtig, versucht allenfalls, Blicke aufzufangen und Gesten, die sich in den Schaufenstern der Filialisten und Billiganbieter spiegeln, und verbringt seine Tage damit, sie zu enträtseln. Man trägt hier, in der alten Töpferstadt, die Kleidung der Unverrückbarkeit des Lebens: dünnwandig aufgebaute, sparsam dekorierte Gefäße. Und Patrizia sagt: Wir zerbrechen sie nicht.

Manches hat sich verändert in den Jahren seit jenem ersten Blick. Frechen ist auf der Liste der hässlichsten Städte um viele Plätze gefallen und liegt heute irgendwo im Mittelfeld. Selbst Patrizia hat ihren Frieden gemacht mit der Stadt: Die menschliche Spezies sei zäh, sie könne in Wüste und Eis überleben - warum also nicht, sagt sie, in Frechen, in der Hauptstraße?

 

mosaik