Alfred ist tot

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



Was ist über die Größe eines Menschen zu sagen?

Ich habe ihn nie gesehen. Alfred Freiherr von Oppenheim.
Patrizia vielleicht: sie arbeitet ein paar Hausnummern
weiter (die Risikofinanzierungen, Sie wissen schon).
Ich bin dort oft vorbei, um sie einzusammeln, unter Linden.
Ein solider bürgerlicher Palast, auf einem Grund,
den man nicht einfach Garten nennen darf.

Eine Ahnung davon kam auf, als Gartenbaukolonnen
die Straße verengten. Warten, hieß das, bis Security in Armani
den Weg freigab. Ein veritabler Tieflader, beladen
mit dicken Schichten von Rollrasen. Es hatten sich einfach nur
Hunderte von bedeutenden Menschen versammelt,
die den Rasen erstickten.

Was ist über die Größe eines Menschen zu sagen?

Wie er geliebt wurde?
Wie an ihn erinnert wird?

1789: die Gründung einer Bank durch Salomon Oppenheim.
Ein paar Tage vor Alfreds Tod der Aufstieg
zum größten privaten Bankhaus in Europa.

Liebe. Freundschaft. Sympathie. Dankbarkeit. Hochachtung. Respekt.

Er war unser Kapitän.

Die Anzeige seines Todes leitet ein mit englischen Versen von Alfred Lord
Tennyson, einen anderen Aristokraten betreffend:
Ulysses.
Den Homer, sagt Patrizia, den Listenreichen nennt.
Doch Lord Tennyson war ein melancholischer Geist.

Was, fragt Gia, ist ein melancholischer Geist?
Einer, sagt Patrizia, der beim Vorwärtsgeschobenwerden
noch rückwärts schauen kann.

"Obwohl uns viel genommen ist", heißt es bei Oppenheim/Tennyson, "bleibt viel; und obwohl wir nicht mehr jene Kraft sind, die in alter Zeit Himmel und Erde bewegte, sind wir, was wir sind."

Die offizielle Trauer wird im Hohen Dom zu Köln seinen Platz finden,
wo ich Adenauer sah, nicht aber Böll.

Ehrensenator der Universität, Träger des Verdienstkreuzes Erster Klasse, Kommandeur der Ehrenlegion, Präsident der Industrie-
und Handelskammer, Vorsitzender der Freunde, Mäzen.

Was ist über die Größe eines Menschen zu sagen?

Sein Wille zur Gestaltung.
Dass den Worten
Taten folgen.

"Es nützt wenig", heißt es an anderer Stelle des Gedichts, "dass ich als untätiger König an diesem stillen Herd, zwischen diesen kahlen Klippen, verheiratet mit einer alternden Frau, zumesse und austeile ungleiche Gesetze einem unzivilisierten Volk, das hortet und schläft und frisst und mich nicht kennt. Ich kann nicht rasten vom Reisen, ich will das Leben trinken bis zum letzten Tropfen. Ich habe es jederzeit sehr genossen, habe sehr gelitten, sowohl mit denen, die mich liebten, als auch allein".

Alfred ist tot.

Wenn ich oder du sterben würdest, sagt Gia, wäre da nur ein klitzekleines Ding.


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